Die Befreiung Kobanês: Überzeugungen und ein Versprechen
Die Geschichten des Kampfes um Kobanê zeugen von vielen Heldentaten. Eine davon erzählt der YPG-Kämpfer Dilsoz Cûdî, der mit seiner Gruppe hinter der Front mit Guerillataktiken kämpfte.
Die Geschichten des Kampfes um Kobanê zeugen von vielen Heldentaten. Eine davon erzählt der YPG-Kämpfer Dilsoz Cûdî, der mit seiner Gruppe hinter der Front mit Guerillataktiken kämpfte.
Vier Jahre ist es her, dass der „Islamische Staat“ in Kobanê seine erste Niederlage einstecken musste, die den Anfang des Endes seines selbst ernannten Kalifats darstellte. 2014 war der IS im Irak in Erscheinung getreten und hatte innerhalb kurzer Zeit weite Gebiete im Irak und in Syrien erobert.
Der Kampf um Kobanê steckt auch vier Jahre nach der Befreiung noch voller ungeschriebener Heldengeschichten. Eine dieser Geschichten ist die der Gruppen, die in den vom IS eroberten Gebieten mit Guerillataktiken aktiv waren.
Der damalige Vormarsch des IS, der sich heute in einem letzten Dorf in Syrien verschanzt hat, wurde weltweit von den Mainstream-Medien als unaufhaltsam bezeichnet. Wie er dennoch aufgehalten werden konnte, davon zeugen diese Heldengeschichten.
Nachdem der IS Mossul, eine der wichtigsten Städte im Mittleren Osten, erobert und anschließend die alte syrische Stadt Raqqa eingenommen hatte, rief er das Kalifat aus und griff am 15. September 2014 Kobanê mit schweren Waffen an, wie sie nicht einmal einige Staaten besitzen.
Hit-and-Run-Taktik
Während des Städtekriegs in Kobanê gab es kleine mobile Einheiten, die als „hintere Gruppen“ bezeichnet wurden und in die bereits vom IS kontrollierten Gebiete einsickerten, wo sie monatelang ausharrten und mit ihrer „Hit and run“-Taktik eine wichtige Rolle bei der Niederlage des IS spielten.
In einer dieser Gruppen war der aus Efrîn stammende YPG-Kämpfer Dilsoz Cûdî. Gegenüber ANF hat er erzählt, unter welchen Bedingungen seine Gruppe zwei Monate lang in den Dörfern vor der Stadt kämpfte und wie sie dabei vorging.
Dilsoz Cûdî war der erste YPG-Kämpfer, den ich kennenlernte, als ich 2014 nach Kobanê kam, um über das Geschehen in der Stadt zu berichten. Vier Jahre später treffen wir uns wieder und brechen zu einer Reise zurück in jene Zeit auf.
Der Schuh von Heval Aras
Auf dem Weg in die Dörfer bei Kobanê biegt Dilsoz im Südwesten der Stadt in ein steiniges Gebiet ein und sucht etwas. Als ich nachfrage, gibt er eine Antwort, die zu einem tiefen Schweigen führt: „Pêlava heval Aras digerim“ – Ich suche den Schuh von Heval Aras.
Dilsoz und Aras… zwei Weggefährten, die zur Erkundung in die Dörfer gingen, als der Krieg die Stadt erreichte… Und Dilsoz beginnt von diesen Tagen zu erzählen:
„Heval Aras und ich haben uns in Kobanê kennengelernt. Als wir aufbrachen, hatten wir nur den Auftrag, Erkundungen zu machen. Wir nahmen ein bisschen Lebensmittel und unsere Waffen mit und gingen von Helincê aus los. Nach einer Nacht Fußmarsch kamen wir hier an.
Nachdem wir uns mit der Umgebung vertraut gemacht hatten, entschieden wir, dass Erkundungen nicht ausreichen und wir eine Aktion machen sollten. Wir gingen ins Dorf Lihênê. Dort sahen wir einen Panzer. Er schien verlassen zu sein. Wir gingen davon aus, dass die IS-Milizionäre entweder weggelaufen oder getötet worden sind.“
Kobanê stand kurz vor dem Fall
Im Panzer befanden sich 36 Stück Munition und eine Kalaschnikow. Kobanê stand kurz vor dem Fall. Wir wollten mit dem Panzer nach Kobanê fahren, aber wir wussten nicht, wie er bedient wird. Daher stellten wir eine Verbindung zu den Freunden her und forderten einen Fahrer an. Die Freunde lehnten ab und sagten, wir sollten den Panzer zerstören.“
Ich frage Dilsoz: „Und was habt ihr getan? Bestand überhaupt die Möglichkeit, damit bis nach Kobanê zu kommen?“ – „Wir wollten es versuchen, es erschien uns damals sinnvoll. Aber die Freunde hatten recht und wir zerstörten den Panzer mit seiner eigenen Munition.“
Über jedes Dorf, an dem wir vorbeifahren, weiß Dilsoz eine Geschichte erzählen, die von dem damaligen Widerstand zeugt. In einem Dorf haben sie Lebensmittel aus den Häusern geholt, in einem anderen Dorf waren sie plötzlich vom IS umstellt. An einer Stelle haben sie sich einmal verirrt und auf einen vom IS gehaltenen Hügel sind sie heimlich geschlichen, um Lebensmittel zu besorgen.
Unterstützung aus Bakûr
Einen Monat lang haben Dilsoz und Aras in dieser Gegend Aktionen durchgeführt, nach denen sie schnell verschwunden sind. Dann kam Unterstützung aus Bakûr, aus Nordkurdistan. Mit Dijwar und Baran waren sie jetzt zu viert.
„Nachdem wir mehr geworden waren, konnten wir auch mehr Aktionen machen. Meistens waren es Sabotageaktionen, aber manchmal kam es auch zu direkten Kämpfen. Wir hatten uns inzwischen an die landschaftlichen Gegebenheiten gewöhnt. Innerhalb von zwei Monaten machten wir acht wirkungsvolle Aktionen und drei Überfälle. Es kam zu mehreren Gefechten. Tagsüber versteckten wir uns, nachts brachen wir auf. Die Tage gehörten ihnen, die Nächte gehörten uns“, erzählt Dilsoz lachend.
Nächtliche Bewegungsunfähigkeit
„Als wir immer mehr Aktionen durchführten, entstand immer größerer psychologischer Druck für den IS. Wir befanden uns im Osten, eine Gruppe war im Westen, eine im Süden und eine in der Umgebung von Miştenûr. Auch die anderen Gruppen machten erfolgreiche Aktionen. Aufgrund dieser Aktionen konnte sich der IS nachts fast gar nicht mehr fortbewegen. Weil er sich nachts nicht bewegte, gab es für uns nichts mehr zu tun.“ Wieder muss Dilsoz bei der Erinnerung lachen.
„Dann fingen wir an, auch tagsüber Aktionen zu machen. Uns waren mächtige Bärte gewachsen, wir sahen schon aus wie die Islamisten. An einem Tag waren wir in einem Dorf, als plötzlich ein Auto des IS ankam. Zwei Islamisten stiegen aus. Sie dachten tatsächlich, dass wir zu ihnen gehören. Einer rief mir zu, ich solle zu ihnen kommen. Wir nahmen die beiden gefangen. Sie sagten uns, dass noch ein weiteres Auto von ihnen kommt. Wir warteten, es kam ein weiteres Fahrzeug mit vier Islamisten. Auch diese nahmen wir gefangen.“
Wie kann es sein
Am 24. November erfuhren Dilsoz und seine Freunde, dass eine Offensive zur Säuberung Kobanês vom IS beginnen sollte. Sie machten sich auf den Weg in die Stadt. Während der Fahrt rief einer der alten kurdischen Milizionäre sie zurück, weil er mitfahren wollte. Sie drehten um.
„Als wir ins Dorf Taşlûx kamen, sagte Heval Aras, dass er eine Mine kontrollieren wollte, die wir zuvor gelegt hatten und die nicht explodiert war. Er befand sich in zehn Meter Entfernung. Ich beobachtete die Umgebung durch das Fernglas, weil es im Dorf Bewegung gab. Plötzlich kam es zur Explosion. Ich dachte zuerst, dass die Islamisten uns entdeckt und angegriffen hätten. Dann schrie Baran, dass die Mine, die Heval Aras kontrollieren wollte, explodiert ist.
Wir konnten nichts tun. Wir haben nicht einmal die Leiche von Heval Aras gefunden. Wir wollten nicht wegfahren. Wie kann das sein, fragten wir uns. Wir wollten doch gerade zurückkehren, die Freunde umarmen und Kobanê befreien. Wie kann das sein.
Wir wollten nicht weg, aber im Dorf war immer mehr Bewegung. Ich war verantwortlich für die Gruppe. Ich entschied, dass ich die Freunde hier herausbringen muss. Wir gingen zehn Schritte, drehten uns um und schauten zurück. Wie kann es sein, dass wir Heval Aras zurücklassen und gehen…“
In Taşlûx gehen wir zu der Stelle, an der Aras gefallen ist, und Dilsoz Augen füllen sich mit Tränen, als von jenem Tag erzählt. Auf dem steinigen Gelände, zu dem wir zuerst gefahren sind, hat Dilsoz nach Aras‘ Schuhen gesucht und an dem Ort, an dem die Mine explodiert ist, sucht Dilsoz nach irgendetwas, das seinem Freund gehört hat. Dann gehen wir an eine andere Stelle, an der Dilsoz und Aras damals gewesen sind, und dort findet Dilsoz tatsächlich Fetzen von Aras‘ Kleidung. Mit großer Ehrfurcht hebt er sie auf…
Ein unausgesprochenes Versprechen
Die „hinteren Gruppen“, die zunächst nur aus drei bis vier Gruppen mit sehr wenigen Menschen bestanden, ziehen zwei Monate später mit 125 Personen in Kobanê ein. Aber selbst in dem Moment, in dem Kobanê befreit wurde, ist Dilsoz damit beauftragt worden, ins Dorf Qeremezrê zu fahren und dort Minen zu legen, wie er lachend erzählt:
„Min ne ketina Kobanê dît, ne jî rizgar kirina wê.“ – Ich habe weder Kobanês Fall gesehen noch den Moment der Befreiung.
Zum Schluss frage ich Dilsoz: „Als ihr die Stadt zur Erkundung verlassen habt, konntet ihr euch da ausmalen, dass ihr eine so große Rolle bei der Befreiung Kobanês spielen würdet? Oder habt ihr überhaupt an die Befreiung geglaubt?“
„Am Anfang haben wir gedacht, dass es schon ein Erfolg für uns wäre, einen einzigen Tag zu überleben und das den Freunden melden zu können. Wir hatten jedoch versprochen, Kobanê zu befreien. Wir haben unserem Willen vertraut und es gab ein unausgesprochenes Versprechen unserem Volk gegenüber…“