Kobanê ist eine symbolträchtige Stadt. Hier erfuhr der sogenannte Islamische Staat (IS) seine erste militärische Niederlage. Am 26. Januar 2015, also heute vor sieben Jahren, erklärten die Kräfte der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) den Sieg über den IS. Es war ein historisches Ereignis, denn zuvor hatte der IS scheinbar unbesiegbar eine Stadt nach der anderen im Irak und in Syrien erobert und ein islamistisches Terrorregime etabliert. Nach der Eroberung von Städten wie Mossul im Irak und Raqqa in Syrien sollte also das Örtchen Kobanê, im Norden Syriens an der türkischen Grenze, zum Endpunkt des unaufhaltsamen Expansionszugs des IS werden. Zuvor leisteten die kurdischen Kräfte vor Ort über 134 Tage hinweg einen erbitterten Widerstand gegen die waffentechnisch und zahlenmäßig überlegenen Islamisten. Die Türkei unterstützte fast über die gesamte Zeit hinweg nicht nur den IS logistisch, sondern öffnete auch seine Grenzen für personellen Nachschub. Auf der Gegenseite zeigten sich allerdings auf der gesamten Welt hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen solidarisch mit dem Kampf der YPG und YPJ gegen den IS. Während die Verteidiger:innen von Kobanê bereit waren, bis zum letzten Schuss ihre Stadt zu beschützen, wichen überall auf der Welt die Menschen nicht von den Straßen. Am Ende zwang diese Situation die internationale Koalition im Kampf gegen den IS dazu, den Kräften der YPG und YPJ mit Luftangriffen gegen den IS zur Seite zu springen. Lange hielt sich die Koalition mit ihrem Einschreiten zurück, doch an diesem Punkt weiter in der Passivität zu verharren, wäre der Weltöffentlichkeit nicht zu erklären gewesen. Was dann folgte, war ein militärischer Siegeszug der YPG und YPJ bzw. des Militärbündnisses der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD/SDF), welcher in der Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS im März 2019 mündete.
Der IS ist weiterhin eine Gefahr für die Welt – dank der Türkei!
Kurz vor dem Jahrestag des Sieges in Kobanê hat der IS allerdings in Nordsyrien erneut zugeschlagen. In der Stadt Hesekê versuchten die Islamisten mit mehr als 200 Selbstmordattentätern, über 5.000 ihrer Mitstreiter in einem Gefängnis zu befreien. Es war der größte IS-Angriff in Nordsyrien seit dem besagten März 2019. Auch die jüngsten Angriffe der Organisation im Irak machen deutlich, dass der IS weiterhin über aktive Mitglieder verfügt. Seitdem das „Kalifat“ zerschlagen wurde, organisieren sich die Islamisten in Syrien und im Irak in Form von Schläferzellen, die jederzeit bereit sind loszuschlagen.
Zudem hat der IS auch weiterhin einen wichtigen Verbündeten in der Region: den türkischen Staat. Insbesondere die Gebiete in Nordsyrien, die von der Türkei besetzt worden sind, gelten als Tummelplatz verschiedenster dschihadistischer Gruppierungen. Die Türkei setzt diese Gruppen seit geraumer Zeit für ihre Interessen ein und zwar nicht nur in Syrien: Auch in Berg-Karabach oder Libyen kamen diese von der Türkei finanzierten Gruppen zum Einsatz.
Bereits in der Vergangenheit wurde berichtet, dass viele ehemalige IS-Kämpfer mittlerweile unter anderem Kommando als Teil der türkeitreuen Islamisten in Nordsyrien agieren. Doch es gab immer wieder auch Hinweise darauf, dass der IS selbst Unterschlupf in diesen Gebieten gefunden hat. Auch der 2019 getötete IS-Chef Baghdadi hatte sich in den türkisch-besetzten Gebieten Syriens versteckt. Getötet wurde er im Übrigen nicht durch das türkische Militär oder verfeindeten islamistische Gruppen, sondern durch eine Operation der US-Armee.
Die Türkei hat in der Vergangenheit den IS für den Kampf gegen die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien eingespannt und unterstützt. Selbst die Entscheidung des IS, 2014 in Richtung Kobanê statt Damaskus vorzumarschieren, soll durch den Druck der Türkei getroffen worden sein. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als abwegig, dass die Türkei abermals auf den IS zurückgreift, um die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zu destabilisieren. Denn nachdem die Türkei im November letzten Jahres kein grünes Licht für eine erneute militärische Offensive gegen die Selbstverwaltung von Rojava erhalten hat, nahmen nicht nur die Drohnenangriffe gegen die Region zu, sondern eben auch die Aktivitäten des IS. Der Angriff von Hesekê ist der vorläufige Höhepunkt dieser Destabilisierungsbemühungen.
Die internationalen Mächte schweigen, tolerieren oder unterstützen gar die türkische Kriegspolitik in Nord- und Ostsyrien. Hinzu kommt, dass Staaten wie Deutschland keine Verantwortung für die in Nordsyrien gefangenen IS-Mitglieder übernehmen, die aus Deutschland stammen und über eine deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien wird also mit dieser Last allein gelassen wird und sieht sich zugleich den ständigem Terror eines NATO-Staates ausgesetzt, der allem Anschein nach das Wiedererstarken des IS unterstützt.
Auch sieben Jahre nach dem Sieg von Kobanê ist somit die Gefahr durch den IS nicht gebannt. Denn um den IS zu zerschlagen, muss gegen diejenigen Staaten Stellung bezogen werden, die ein Interesse am Terror dieser Organisation in der Region haben. Passiert dies nicht, kann der IS sehr bald wieder zu einer globalen Gefahr werden.