Im September 2014 erschütterte der Vormarsch der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) den Mittleren Osten und die ganze Welt. Die unter anderem mit erbeuteten US-Waffen aus irakischen Beständen und türkischer Unterstützung hochgerüstete Terrororganisation hatte nach der kampflosen Einnahme von Mosul ihr Augenmerk auf Nordsyrien und insbesondere auf Kobanê gerichtet. Nichts schien die Islamisten zu stoppen, nachdem Raqqa überrannt und die Hälfte Syriens für das selbsternannte „Kalifat“ beansprucht wurde. In Raqqa hatte sich der IS zudem reichlich mit russischen Waffen ausgestattet und marschierte direkt weiter auf Kobanê. Mit der Übernahme der Region wollte sich der IS eine weitere Verbindung zu seinen Nachschubwegen in die Türkei öffnen und der demokratischen Selbstverwaltung einen empfindlichen Schlag versetzen. Da die Selbstverwaltung für die Türkei den Hauptfeind darstellte und auch von den übrigen NATO-Staaten abgelehnt wurde, wurde Kobanê abgeschrieben. Der Kampf um Kobanê bildete aber den entscheidenden Wendepunkt. Der türkische Regimechef Erdoğan behauptete immer wieder, Kobanê sei gefallen und US-Außenminister John Kerry erklärte, so bedauerlich es sei, werde man nicht eingreifen, denn Kobanê habe keine „strategische Bedeutung.“ Erst der hartnäckige Widerstand der YPG und YPJ, der Menschen in Kobanê und weltweiter Protest zwangen die USA zur Unterstützung. Die Hauptlast trugen aber weiterhin die YPG und YPJ. In 134 Tagen Kampf um jeden Quadratmeter der Stadt brachten sie der größten Terrormiliz des 21. Jahrhunderts die entscheidende Niederlage bei.
Von nun an begannen die YPG und YPJ als Rückgrat der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und Verbündete der internationalen Anti-IS-Koalition die Miliz immer weiter zurückzudrängen. Am 21. März 2019 fand die Befreiungsoffensive, in deren Verlauf mehr als 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer ihr Leben ließen, mit der Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS in seiner letzten Bastion Baghouz ihr Ende. Mit Serdar Heleb, einem der YPG-Kommandanten, haben wir über jene Tage gesprochen. Er ist mitverantwortlich für den historischen Sieg in Kobanê.
Şengal-Genozid war eine Botschaft an alle Kurden
Serdar Heleb erinnert daran, dass die Angriffe auf Kobanê auch eine politische Zielrichtung hatten: „Kobanê war der Ort, an dem die Revolution begann. Kobanê war der Ort, an dem Serok Apo (Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) seine ersten Schritte in Rojava unternahm. Der Feind hat dies sehr genau analysiert und auf dieser Grundlage die Entscheidung zum Angriff getroffen.
Der IS hatte Anfang Juli 2014 mit seinem Angriff auf Kobanê begonnen und plante den Kanton am 19. Juli zu Fall zu bringen. Dieser Tag markierte den zweiten Jahrestag der Rojava-Revolution. Da der IS auf heftigen Widerstand stieß, konnte dieser Plan nicht umgesetzt werden. Daraufhin richtete sich die Miliz gegen Şengal und verübte ein furchtbares Massaker. Es war eine Botschaft an das gesamte kurdische Volk.“
15. September - Beginn größerer Angriffe auf Kobanê
Nach dem Überfall auf die Şengal-Region am 3. August 2014 gelang es dem IS, zahlreiche Städte im Irak und Syrien einzunehmen. Sechs Wochen später richtete er sich mit einer noch größeren Mobilisierung gegen Kobanê. Jede Angriffswelle begann mit Attacken der psychologischen Kriegsführung. Haleb sagt dazu: „Mit der Angst, die die Söldner verbreiteten, konnten sie viele Städte binnen Stunden einnehmen. Darin waren sie erfolgreich. Die Bevölkerung fürchtete sich, so fielen die Städte kampflos an die Miliz.“
Wir sagten, das Volk wird von uns Rechenschaft verlangen
Heleb erzählt, dass sich die YPG/YPJ dieser Strategie der Angst nicht ergaben. „Denn wir verstanden uns als Revolutionär*innen und hatten es zu unserer Verantwortung gemacht, die Menschen zu schützen. Wir sagten uns, wenn wir dies nicht tun, wird das Volk Rechenschaft verlangen.“ Kobanê war damals von drei Seiten vom IS eingekreist, auf der vierten Seite stand die türkische Armee. Tausende Söldner griffen die Stadt mit hochtechnologischem Kriegsgerät an. Demgegenüber versuchten die YPG/YPJ, Kobanê mit leichten Waffen zu halten.
Wir glaubten an die Notwendigkeit, unser Volk zu verteidigen
Heleb erinnert sich: „Wir hatten damals sehr wenige Kräfte. Also versuchten wir herauszufinden, auf welche Weise wir gegen so eine gewaltige Kraft widerstehen könnten. Wir entschieden uns, die effizientesten Taktiken anzuwenden. Wenn der IS zum Beispiel darauf abzielte, unsere Kräfte in den Dörfern zu vernichten, ließen wir das nicht zu. Wir zogen die Bevölkerung Schritt für Schritt zurück und bereiteten uns auf den Häuserkampf in der Stadt vor. Unser Hauptziel war es, die Bevölkerung zu schützen. Denn wir rechneten damit, dass der IS ein ähnliches Szenario wie in Şengal vorbereitet hatte.“ Der IS verkündete damals, es sei religiös legitim, den Besitz, die Häuser und die „Ehre der Kurden“ - gemeint sind Frauen - an sich zu bringen. Erdogan ließ verlauten, Kobanê würde schon noch fallen. Demgegenüber erklärt Heleb: „Aber was glaubten wir? Wir glaubten, dass wir im Recht sind, dass wir unser Volk und unser Land verteidigen müssten.“
In Kobanê gab es nicht nur eine Arîn
In Anspielung auf Arîn Mîrkan, eine YPJ-Kommandantin, die sich am 5. Oktober 2014 inmitten von IS-Söldnern am Miştenur-Gipfel in die Luft sprengte und so ein Fanal des Widerstands setzte, sagt Serdar Heleb: „Es gab in Kobanê nicht nur eine Arîn. Es gab viele wie sie. Auch die Gefallenen Baran, Êrîş, Xwînda, Botanê Sor und Reşo waren wie Arîn. Unsere Weggefährt*innen waren selbstlos. Viele Freundinnen und Freunde sind aus dem Krankenhaus an die Front geflohen. Kobanê hat durch diesen Geist der Opferbereitschaft gesiegt.“
Eine überzeugte Gruppe brachte dem IS die größte Niederlage
Zum Abschluss sagt YPG-Kommandant Heleb: „Eine überzeugte Gruppe von Menschen voller Entschlossenheit und Opferbereitschaft hat dem IS, der zum Fluch für die gesamte Menschheit geworden war, die größte Niederlage beigebracht. Kobanê war der Anfang vom Ende des IS.“