Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş hat seine Verteidigung im Kobanê-Verfahren beendet. Der 50-Jährige, der selbst Rechtsanwalt ist, nutzte am Montag sein vorerst letztes Wort in dem seit 2021 in Ankara andauernden Prozess, um seine Vision eines radikaldemokratischen Gesellschaftssystems zu formulieren, in dem sich Kurdinnen und Kurden mit ihrer eigenen kulturellen und politischen Identität frei artikulieren können, und stellte seine Forderungen zur Lösung der kurdischen Frage vor. Gleich eingangs lud Demirtaş zu einem Perspektivenwechsel ein und forderte im Hinblick auf die türkisch-kurdischen Beziehungen, die auf eine schwierige und von Konflikten geprägte Geschichte zurückblickten, Politik von Gewalt zu trennen.
„Die Moderne ist gewaltträchtig. Sie ist Ausdruck einer Politik von oben nach unten. Es gibt aber keine Lösung, die von oben nach unten funktioniert. Deshalb muss die Politik losgelöst werden von Gewalt. Um das zu erreichen, muss Politik demokratisiert werden. Seit Tagen rede ich hier von den Auswirkungen, die kollektive Gewalterfahrungen haben, welche die türkisch-kurdischen Beziehungen prägen. Sie führen zu gegenseitigen gesellschaftlichen Traumata. Ein Politiker, der die Gewalt verurteilt, ohne dieses Trauma zu beseitigen, ist ein Heuchler und ein politischer Betrüger.“
Demirtaş sprach von einem gesellschaftlichen Ideal der solidarischen Autonomie, der föderativen Dezentralisierung, der Selbstverwaltung; zusammengefasst der partizipativen Demokratie und der Volkssouveränität als Lösung aller Krisen und Konflikte. Es sei unmöglich, die tiefen Wunden zu heilen und Lösungen für bestehende Probleme zu finden, einschließlich der Kurdistan-Frage, solange die politischen Parteien Modelle wie die Radikaldemokratie, die als Basis ausschließlich die Volksmacht befürwortet, nicht anerkennen und in die Praxis umsetzten. „Die radikale Demokratie muss unser aller unverzichtbares Prinzip sein“, betonte Demirtaş.
„Die Waffen müssen zum Schweigen gebracht und entschärft werden. Es ist der Staat, der die Macht hat, hier den ersten Schritt zu tun“, führte Demirtaş mit Blick auf den Krieg der Türkei gegen das kurdische Volk und dessen bewaffneten Widerstand dagegen weiter aus. „Nachdem der Staat diesen Schritt getan hat, ist es die Pflicht der politisch Handelnden, ihm mit Selbstbewusstsein zu folgen. Das haben wir getan, und das wird uns in diesem Prozess zum Vorwurf gemacht. Es geht hier um Demokratisierung und Aufklärung. Der erste Schritt ist mit Moral und Tugend möglich. Tugendhaft wird man durch Wissen. Freies Denken und freie Menschen sind wichtig, um Probleme zu lösen. Doch ohne politische Moral kann es keine Lösungen geben. Wir haben jetzt eine universelle Definition von Tugend. Diese Definitionen können von Land zu Land und von Person zu Person unterschiedlich sein. Das führt zu Konflikten. Deshalb müssen wir eine universelle Tugendhaftigkeit und Güte schaffen. Es kann keine Güte ohne Handeln oder Diskurs geben. In diesem Prozess sind unsere Taten und Worte nur ein Brief, der für heute und die Zukunft geschrieben wurde. Das, was wir sagen, bleibt im gegenwärtigen Zustand des Wahnsinns ungehört.“
Demirtaş nannte sieben Punkte, die unentbehrlich seien für eine politische Lösung der kurdischen Frage und einen gerechten Frieden:
1- Ein Ende des bewaffneten Kampfes sollte durch Verhandlungen mit den Gesprächspartnern sichergestellt werden. Es müssen rechtliche Vorkehrungen getroffen werden, um schnelle, effektive und dauerhafte Ergebnisse zu erzielen.
2- Alle juristischen und verwaltungsrechtlichen Hindernisse für eine demokratische Politik müssen beseitigt werden; die Rechte auf Demonstrationsfreiheit, Streiks, Organisierung und die freie Meinungsäußerung müssen im Einklang mit den universellen Gesetzen stehen.
3- Eine endgültige Lösung der kurdischen Frage kann es nur in der türkischen Nationalversammlung geben. Alle politischen Parteien müssen sich an diesem Prozess beteiligen. Das Hauptziel sollte aber nicht nur die Lösung der kurdischen Frage, sondern die aller gesellschaftlichen Probleme durch eine neue, freiheitliche und zivile Verfassung sein.
4- Die Anerkennung der Kurdinnen und Kurden als Volk, die freie Nutzung ihrer Muttersprache in allen gesellschaftlichen Bereichen, die Bewahrung und Entwicklung ihrer Geschichte und Kultur, die Organisierung mit eigener Identität und die Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverwaltung müssen verfassungsmäßig garantiert werden.
5- Es muss sichergestellt werden, dass alle in der Vergangenheit begangenen Verbrechen und das dadurch verursachte Leid untersucht werden und die Wahrheit ans Licht kommt.
6- Die Abkehr von der Staatsideologie „Eine Nation, eine Flagge, eine Sprache“ und der offiziellen Geschichtsschreibung hin zur Gestaltung einer demokratischen Republik mit einer wissenschaftlichen, objektiven Geschichte ist unabdingbar. Dazu gehört auch der Übergang zu einer kritischen pädagogischen und wissenschaftlichen Erziehung.
7- Strafverfahren, die im Kern die kurdische Frage betreffen, müssen eingestellt werden. Dazu braucht es aber auch die Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes (TMKK) und die Freilassung aller politischen Gefangenen.
Radikale Demokratie ist der Schlüssel
Die Ablehnung des Zentralismus durch die kurdische Bevölkerung, die in der Politik von oben nach unten eine große Heuchelei sehe, ihr wachsender Ruf nach einer neuen Verfassung und direkter, aktiver politischen Teilhabe als Garantie für Grundrechte und Überwindung aller Unzulänglichkeiten der repräsentativen Politik seien laut Demirtaş alles andere als ein Angriff auf die Türkei, sondern zeigten die Bedeutung der Radikaldemokratie, die eine echte Chance für das Ende von Krieg, Blut und Tränen sei. „Unser Aufruf richtet sich in erster Linie an die Bevölkerung der Türkei: Wir Kurdinnen und Kurden sind für Frieden und ein geschwisterliches Zusammenleben in allen 81 Provinzen. Wir wollen nur, dass unsere Sprache, unsere Kultur, unser politischer Wille und unsere Sicherheit respektiert werden. Das sind unsere ureigensten, grundlegenden und menschlichen Rechte als Volk.
An den Verhandlungstisch zurückkehren
Deshalb appellieren wir auch an die linken und sozialistischen Kräfte der Türkei: Wir wünschen uns, dass sie zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage beitragen. Auch unsere Partei, die DEM-Partei, muss selbstbewusst und initiativ sein, um den Frieden zu erreichen. Sie muss ihre Kompetenz und ihren Willen in vollem Umfang für eine friedliche Lösung einsetzen. Wir, das kurdische Volk, suchen seit 150 Jahren nach einer Lösung und haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Dieser Prozess ist einer von ihnen. Da wir uns dem Ende dieses Verfahrens nähern, möchte ich noch einmal von ganzem Herzen sagen: Wir würden sogar unser Leben geben, wenn der Preis, den wir bezahlt haben, zum Frieden führen würde. Ich hoffe, dass jeder die richtigen Lehren aus all diesen Geschehnissen zieht. Kehrt zurück zum Dialog und an den Verhandlungstisch. Wir werden den Frieden erreichen, den wir unserem Volk versprochen haben.“ Der Kobanê-Prozess wird am Dienstag mit den Plädoyers der Verteidigung von Demirtaş fortgesetzt.