Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş hat seine Verteidigung im sogenannten Kobanê-Verfahren in Ankara fortgesetzt. Der ehemalige HDP-Vorsitzende ist einer von 108 Angeklagten, denen im Zusammenhang mit den Protesten in der Türkei während der Schlacht um Kobanê im Herbst 2014 lebenslängliche Haftstrafen drohen. Von den Angeklagten sind 18 Politikerinnen und Politiker im Gefängnis, darunter auch Demirtaş, der im November 2016 verhaftet wurde und über eine Liveschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis Edirne an der Verhandlung teilnahm.
Selahattin Demirtaş, für den die Staatsanwaltschaft sogar bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis wegen vorsätzlichem Mord und Zerstörung der staatlichen Einheit fordert, hat sich in dem im April 2021 eröffneten Prozess bereits mehrfach zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage geäußert und dabei auf den PKK-Begründer Abdullah Öcalan als Hauptverhandlungsführer verwiesen. Auch heute erklärte Demirtaş, er habe schon immer das Modell einer demokratischen Autonomie verteidigt. Niemand sei gezwungen, den Staat zu mögen. „Wir sprechen zum Volk und nicht zum Staat“, sagte Demirtaş und fuhr fort:
„Anatolien kann nicht mit einer einzigen Sprache regiert werden. Es kann nicht von einem einzigen Mann und im Sinne einer einzigen Nation regiert werden. Warum also ist eine demokratische Autonomie das passendste Modell für die Türkei? Weil die lokalen Bedürfnisse überall unterschiedlich sind. Die Bedingungen und die Forderungen ändern sich ständig. Deshalb müssen alle Länder weltweit kommunale Verwaltungsmodelle anwenden. Der größte Bedarf besteht jedoch hier in unserer Gegend. Damit sich alle mit dem Staat identifizieren können, müssen sie nach demokratischen Grundsätzen in die Verwaltung eingebunden werden. Wir haben das jedoch niemals despotisch erzwungen. Wenn wir in der Regierung wären, hätten wir ein Referendum angeregt. Als Kurden unterbreiten wir den Vorschlag, die seit hundert Jahren andauernde kurdische Frage zu beenden. Abdullah Öcalan muss daran beteiligt werden. Frieden wird mit denjenigen hergestellt, mit denen man Krieg führt. Demokratische Autonomie beruht auf einer Verständigung, auf Einverständnis und Überzeugung. Genau das ist es, was Abdullah Öcalan versucht hat. Mit Politik und Verhandlungen. Autonomie hat nichts mit Waffen zu tun.“
„Diese Kinder wurden nicht in Gaza ermordet“
Demirtaş ging im weiteren Verlauf auf die Massaker an der kurdischen Zivilbevölkerung während der Ausgangssperren 2015/2016 ein und verlas die Namen der damals verantwortlichen Kommandeure, die wie Adem Hududi und viele weitere nach dem vermeintlichen Putsch verhaftet wurden. Er zeigte Bilder ermordeter Kinder und sagte: „Wer hat das getan? Schauen Sie, Mütter haben die Leichen ihrer Kinder tagelang in Kühltruhen aufbewahrt, weil sie sie nicht beerdigen konnten. Das war nicht in Gaza, sondern in einem Bezirk von Şırnak.“ Über die Gräueltaten der türkischen Sicherheitskräfte gebe es unzählige Berichte von Amnesty International, dem Menschenrechtsverein IHD und der Anwaltskammer von Amed: „Man kann alles nachlesen, was mit den Häusern, den Verwundeten und den Leichen gemacht wurde. Allerdings haben wir nicht durch das Lesen von Berichten davon erfahren. Wir haben es erlebt. Der Staat, dem wir Steuern gezahlt haben, hat unsere Städte zerstört und uns getötet. Wie kann man zwölf Städte und Ortschaften dem Erdboden gleichmachen?“
Um den Konflikt weiter anzuheizen, sei sogar geplant worden, Figen Yüksekdağ, die damalige Ko-Vorsitzende der HDP, in Silvan zu ermorden. Das habe jedoch verhindert werden können, Yüksekdağ sei in Sicherheit gebracht worden. Abschließend erklärte Demirtaş: „Wir werden unterdrückt, aber wir sind würdevoll und stolz. Und wir werden nicht kapitulieren.“
Die Verhandlung wird am Donnerstag fortgesetzt.