Türkische Justiz: „IS-Militante“ und kurdische „Terroristen“

Die Sympathie des türkischen Staates mit dem IS spiegelt sich in der Anklageschrift im Kobanê-Verfahren wider. Dort werden IS-Mörderbanden als „Militante“ bezeichnet, während die angeklagten kurdischen Politiker:innen als „Terroristen“ diffamiert werden.

Die Zusammenarbeit des türkischen Staates mit dem „Islamischen Staat“ (IS) ist weltweit kein Geheimnis mehr. Waffenlieferungen, die Versorgung von verletzten IS-Dschihadisten und die Aufnahme von IS-Verbrechern in türkeitreue Söldnertruppen sind Dutzende Male belegt. Der ehemalige Ministerpräsident Davutoğlu hatte die IS-Mörderbanden als „wütende junge Männer“ bezeichnet, ähnlich wie der türkische Regimechef heute die mordende und vergewaltigende Hamas zu „Befreiern“ umzulabeln versucht.

In der Anklageschrift im Kobanê-Verfahren in Ankara zeigt sich diese Haltung islamistischem Terror gegenüber erneut. Darin werden systematisch IS-Mitglieder als „Militante“ bezeichnet, während die angeklagten kurdischen Politiker:innen als „Mitglieder einer Terrororganisation“ genannt werden. Die im Kobanê-Verfahren inhaftierte kurdische Politikerin Pervin Oduncu erklärte diese Bewertung mit der Feststellung, dass der IS eine Organisation sei, „die für geheime und verdeckte Zwecke der Türkei genutzt“ werde. Sie erklärte vor Gericht: „Ich überlasse die Bewertung der Tatsache, dass IS-Mitglieder, Mörder von Hunderttausenden von Menschen, frei und offen herumlaufen, während wir wegen eines Tweets verurteilt werden, dem Gesetz und dem Ermessen des Gerichts."

Am Dienstag fand ein weiterer Verhandlungstag im sogenannten Kobanê-Prozess statt. Im Kobanê-Verfahren sind 108 Personen angeklagt. 18 von ihnen sind inhaftiert. Unter den Inhaftierten befinden sich die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Angeklagt sind mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete und Bürgermeister:innen, sowie alle Mitglieder des zentralen HDP-Vorstands von 2014. Das Kobanê-Verfahren begann mit der Anklage im Jahr 2020. Die Anklage im Kobanê-Verfahren stützt sich auf eine von der HDP am 6. Oktober 2014 gepostete Twitter-Nachricht. Darin wurde zu demokratischen Protesten in Solidarität mit der Bevölkerung von Kobanê in Nordsyrien, die gegen die Angriffe des IS kämpfte, sowie gegen das Embargo der Türkei gegen die kurdische Stadt aufgerufen. Der Staatsanwalt fordert für alle Angeklagten 38-mal lebenslänglich (ohne Bewährung) für die Straftat „Zerstörung der Einheit des Staates und der Integrität des Landes" und des „vorsätzlichen Mordes" hinsichtlich der Menschen, die bei den Protesten ihr Leben verloren haben.

Ihr seid mit euren Urteilen in der Tasche gekommen“

Der Verhandlungstag am Dienstag begann mit der Feststellung von Pervin Oduncu, dass in der Anklageschrift der IS als „Militante“ beschönigt wird. Sie begann ihr Verteidigung mit den Worten: „Ich weiß, dass ich in der Schuld dieses Volkes sterben werde“ und bezog sich dabei auf die HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz, die im HDP-Provinzverbandsbüro in Izmir ermordet wurde. Oduncu erklärte, dass das Gericht für sie bedeutungslos geworden sei: „Ihr seid mit euren Urteilen in der Tasche gekommen. Das habt ihr mich seit dem ersten Prozesstag spüren lassen. Ich versuchte, in diesem Gerichtssaal an das Gesetz zu glauben. Ihre Vorgehensweise uns gegenüber während des Prozesses hat diese Hoffnung zunichte gemacht.“

Ich mache diese Verteidigung nicht für das Gericht, sondern für die Geschichte“

Oduncu sagte, dass sie sich daher mit ihrer Verteidigung nicht an das Gericht, sondern an die Geschichte richte: „Wenn eines Tages Frieden in diesem Land einkehrt, werde ich diese Verteidigung vorbringen, damit man das, was hier geschieht, von uns erfahren kann. Es gab keine Rechtfertigung für meine Verhaftung. Das unrechtmäßige Verhalten gegen mich und meine Mitangeklagten beschränkte sich aber nicht darauf. Sie haben die Zeugen aus dem Gesamtverfahren, die keine einzige Aussage gegen mich vorgebracht haben, anschließend Aussagen gegen uns fabrizieren lassen. Erst haben sie mich verhaftet, dann haben sie eine Straftat erfunden. Sie haben unser Recht auf ein faires Verfahren und eine faire Verteidigung verletzt und unsere Inhaftierung auf der Basis von Falschaussagen als Grund für die Inhaftierung verwendet.“

Elf Tage Bunkerhaft wegen einer Zitrone

Oduncu berichtete außerdem von Repressalien in Haft. Sie sagte: „Niemand hat diese Bedingungen verdient, selbst ein Feind nicht. Sogar wegen einer Zitrone, die wir gegessen haben, wurden wir zu elf Tagen Einzelhaft verurteilt. Die Gefängnisse üben fürchterliche Repression aus und die Menschen befinden sich derzeit im Hungerstreik, um die Isolation zu durchbrechen.“