Zweites Kobanê-Verfahren in Ankara

In Ankara hat heute die zweite Auflage des als Kobanê-Verfahren bekannten Schauprozesses gegen Oppositionspolitiker:innen begonnen. Angeklagt sind die ehemaligen HDP-Abgeordnetent Hüda Kaya, Serpil Kemalbay, Fatma Kurtulan, Garo Paylan und Pero Dündar.

Schauprozess gegen ehemalige HDP-Abgeordnete

Nach den Skandal-Urteilen gegen den ehemaligen HDP-Vorstand im sogenannten Kobanê-Verfahren in der Türkei vor gut einem Monat hat heute in Ankara der zweite Prozess im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê begonnen. Angeklagt sind fünf frühere Abgeordnete der HDP. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Hüda Kaya, Serpil Kemalbay, Fatma Kurtulan, Garo Paylan und Pero Dündar unter anderem 37-fachen Mord sowie „Aufwiegelung zum Aufstand“ und „Spaltung der Einheit und Integrität des Landes“ vor und fordert erschwerte lebenslängliche Haft ohne Aussicht auf Entlassung.


Tülay Hatimoğulları (DEM) forderte vor Prozessbeginn die Freilassung von Hüda Kaya

Der Prozess findet vor der 22. Kammer des Strafgerichts Ankara in einem Verhandlungssaal im Haftkomplex Sincan statt und wird von der DEM-Vorsitzenden Tülay Hatimoğulları und weiteren Abgeordneten sowie von Mitgliedern des Demokratischen Islam-Kongresses (DIK) beobachtet. Die DEM-Partei, die die Nachfolge der von einem Verbot bedrohten HDP angetreten hat, bezeichnet das Kobanê-Verfahren als „Stellvertreterprozess aus Rache für den Sieg gegen den IS“. Es sei ein „politischer Coup“ und Paradebeispiel dafür, dass die Justiz in der Türkei politisch gesteuert wird. Tülay Hatimoğulları forderte die sofortige Freilassung von Hüda Kaya, die im November 2023 verhaftet wurde und als einzige Angeklagte über eine Videoschaltung aus der Frauenvollzugsanstalt Silivri an der Verhandlung teilnahm. Serpil Kemalbay, Fatma Kurtulan und Pero Dündar leben inzwischen im Exil in Europa.

Hüda Kaya: Anklage aus politischer Rache

Hüda Kaya war von 2015 bis 2023 Abgeordnete der HDP im Parlament der Türkei. Die international bekannte Buchautorin und Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte war bereits mehrfach im Gefängnis, auch ihre Kinder wurden verhaftet. Vor Gericht erklärte sie heute, die Anklage sei wie eine schlechte Kopie früherer Anschuldigungen. „Ich werde für Äußerungen angeklagt, in denen ich mich für Frieden und Gleichheit ausgesprochen habe. Meine Reden werden mir vorgehalten, als ob es hier um politische Rache geht.“

Drakonische Urteile im ersten Kobanê-Prozess

Über drei Jahre nach Prozessauftakt sind Mitte Mai die Urteile im ersten als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Oppositionelle gesprochen worden. Zwei Dutzend der insgesamt 108 Angeklagten, darunter die früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die jeweils 42 bzw. 30 Jahre Haft erhielten, wurden wegen Separatismus und Terrorismusvorwürfen zu drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie im Oktober 2014 zu Protesten gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die in die westkurdische Stadt Kobanê eingedrungene Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) aufgerufen hatten. Zwölf Personen wurden freigesprochen, im Fall aller übrigen Angeklagten wurde das Verfahren abgetrennt.

Hintergrund: Kampf um Kobanê im Oktober 2014

Als der IS im Oktober 2014 mit Unterstützung des türkischen Staates die Stadt Kobanê eingekesselt hatte und ein Massaker an der Bevölkerung drohte, war es in mehr als 30 Städten in der Türkei bzw. in Nordkurdistan zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden sowie der Polizei, der Gendarmerie und IS-nahen Organisationen mit Dutzenden Toten gekommen. Die Zahl dieser Toten, bei denen es sich überwiegend um Sympathisierende der HDP handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet.

Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD waren damals außerdem 682 Menschen bei den Protesten verletzt worden. Mindestens 323 Personen wurden zudem verhaftet. Im Verlauf des Aufstands hatte es darüber hinaus zahlreiche Brandanschläge auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen gegeben, die nach Recherchen der HDP hauptsächlich von Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hizbullah verübt worden waren.