Anwälte ziehen vor Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Das türkische Verfassungsgericht hat die tödlichen Schüsse auf die damals fast 17-jährige Rozerin Çukur im Januar 2016 im belagerten Stadtteil Sûr von Amed (tr. Diyarbakır) als rechtmäßig eingestuft. Die Richter:innen kamen zu dem Schluss, dass kein Verstoß gegen das Recht auf Leben vorliege – ein Urteil, das bei Menschenrechtsorganisationen und Angehörigen für Empörung sorgt. Die Anwälte der Familie haben mittlerweile Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegt.
Schülerin soll PKK-Mitglied gewesen sein
Rozerin Çukur wurde am 8. Januar 2016 während einer Ausgangssperre in Sûr von Scharfschützen getötet. Erst Monate später konnte ihre Familie den Leichnam beisetzen. Die Staatsanwaltschaft stellte ein damals von ihren Eltern angestrengtes Verfahren mit der Begründung ein, Çukur sei mutmaßlich Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit „Terroristin“ gewesen – eine Einschätzung, der das Verfassungsgericht nun folgt.
Urteil stützt sich auf Annahmen, nicht auf Beweise
In seiner Entscheidung führt das Verfassungsgericht aus, Rozerin Çukur sei „im Rahmen einer rechtmäßigen Verteidigungssituation“ getötet worden. Obwohl keine konkreten Beweise für eine aktive Beteiligung an einem bewaffneten Angriff gegen Polizei oder Armee vorliegen, geht das Gericht davon aus, dass die Schülerin sich in einer Situation befunden habe, in der der Einsatz tödlicher Gewalt durch Sicherheitskräfte gerechtfertigt gewesen sei. Die Tötung sei demnach verhältnismäßig und zur Erreichung eines „legitimen Ziels“ notwendig gewesen.

Eine weitergehende Ermittlung – etwa durch die Identifikation beteiligter Polizisten oder das Einholen von Zeugenaussagen – sei laut Gericht nicht erforderlich gewesen. Die vorliegenden Unterlagen und die Bewertung der Umstände reichten aus, um den Sachverhalt zu beurteilen. Aus Sicht der Richter:innen sei das Recht auf Leben in diesem Fall nicht verletzt worden, da das Opfer „möglicherweise“ Mitglied einer „terroristischen Organisation“ gewesen sei.
Scharfe Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten
Der Anwalt Abdullah Zeytun, einer der Vertreter der Familie, kritisierte das Urteil scharf: „Das Verfassungsgericht folgt der Sicherheitslogik des Staates. Es nimmt an, Rozerin sei Mitglied einer bewaffneten Gruppe gewesen, ohne dass dafür auch nur ein konkreter Beweis vorliegt.“ Besonders problematisch sei, dass das Gericht tödliche Gewalt mit der bloßen Möglichkeit zukünftiger Handlungen rechtfertige – ein Vorgehen, das de facto einer außergerichtlichen Tötung gleichkomme.
„Die Annahme, jemand könne in Zukunft Gewalt ausüben, reicht aus, um tödliche Gewalt zu legitimieren. Das widerspricht allen rechtsstaatlichen Prinzipien“, so Zeytun weiter. Der Fall zeige, dass das oberste Gericht des Landes eher die Interessen der Sicherheitsbehörden schütze als das Grundrecht auf Leben.
Auch Yakup Güven vom Ortsverband des Menschenrechtsvereins IHD in Amed wies darauf hin, dass es im gesamten Verfahren an grundlegenden Ermittlungsmaßnahmen gefehlt habe: „Es gibt keine eindeutigen Beweise, keine Tatortfotos, keine Zeugenaussagen, keine Protokolle, keine identifizierten Beamten. Wie kann unter solchen Bedingungen ein fairer Prozess geführt werden?“
Gang nach Straßburg
Aufgrund der Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts wurde inzwischen Beschwerde beim EGMR in Straßburg eingereicht. Die Anwält:innen erhoffen sich dort eine Neubewertung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der menschenrechtlichen Standards zum Schutz des Lebens. „Das ist kein Einzelfall“, sagte Güven. „Die systematische Straflosigkeit bei Todesfällen durch staatliche Gewalt ist ein wiederkehrendes Muster in der Türkei, insbesondere in kurdischen Gebieten.“ Man werde den Fall vor die internationale Öffentlichkeit bringen und für Gerechtigkeit kämpfen.