Anfang September 2015 verhängte der türkische Staat über die Stadt Hezex (türk. Idil) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) eine Ausgangssperre. Es war die erste einer bis zum Frühjahr 2017 nicht abreißenden Kette von Ausgangssperren, da zuvor in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert worden war. Es war der demokratische Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen „Präsidialsystem“, dessen Umsetzung die Demokratische Partei der Völker (HDP) vorerst durchkreuzte, als sie bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 dreizehn Prozent der Stimmen gewann und damit verhinderte, dass die Erdoğan-Partei die absolute Mehrheit erreicht. Kurze Zeit später verkündete Erdoğan das Ende des Friedensprozesses seiner Regierung mit der PKK – und setzte wieder auf Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Während der Militärbelagerung kurdischer Städte kamen offiziellen Angaben zufolge 1464 Menschen ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen.
In Hezex wurden mindestens 127 Menschen Opfer der türkischen Staatsgewalt. Eines von ihnen war Fatma Elarslan. Als am 16. Februar 2016 erneut eine Ausgangssperre über die Stadt ausgerufen wurde, war sie nicht zu Hause. Sie war zum Spielen mit Gleichaltrigen in einem anderen Viertel unterwegs. Nachdem türkische Sicherheitskräfte dort einrückten, flüchtete sie sich Zeugenangaben zufolge in ein Haus. Am 7. März 2016 identifizierte eine Tante den Leichnam des Mädchens im staatlichen Krankenhaus der 130 Kilometer entfernten Stadt Mêrdîn (Mardin). Hätte Fatma Elarslan gelebt, wäre sie einen Monat später dreizehn Jahre alt geworden.
Zustand eines Hauses am 31. März 2016 in Hezex nach dem Ende einer Ausgangssperre
Leiche von Fatma unter Steinhaufen gefunden
Laut dem Inhalt der Ermittlungsakte wurde Elarslans lebloser Körper unter einem Steinhaufen an einem öffentlichen Platz im Stadtzentrum von Hezex gefunden. Neben ihr lagen auch die Leichen von neun weiteren Personen. Der Autopsiebericht besagte, dass ihr Tod durch Schusswunden und Verletzungen durch die Explosion von Munition verursacht wurde. Aus welchen Schusswaffen die Projektile abgefeuert wurden, sei aber nicht festzustellen. Dies sei ohnehin überflüssig, da es sich wie bei den anderen Toten auch bei Fatma Elarslan laut den Aussagen einer „anonymen Zeugin” um ein „Mitglied der Organisation” – gemeint ist die PKK – gehandelt hätte, das sich am „gewaltsamen Kampf für Selbstverwaltung” beteiligt haben soll. Es sei festgestellt worden, dass das Mädchen an „bewaffneten Handlungen gegen Polizisten teilnahm” und „bei Zusammenstößen von Sicherheitskräften getötet wurde”. Die Beamten hätten nicht fehlerhaft gehandelt, da sie lediglich den „im Zuge der Ausgangssperren erteilten Befehlen” nachkamen. „Um einen Operationsbefehl zu erfüllen, hielten sie [die Sicherheitskräfte] sich in Vierteln auf, in denen Organisationsmitglieder Angriffe mit Waffen und Bomben ausführten. Somit war ihr Handeln [die Tötung von Fatma Elarslan] juristisch legitim.”
Fatma Erarslans Ausweis
Laut Sicherheitsbehörden keine Gefechte im Freien
Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft in Hezex das Ermittlungsverfahren um den Tod von Fatma Elarslan einstellte, legte der Rechtsanwalt ihrer Eltern, Veysel Vesek, Einspruch bei der Strafkammer am Amtsgericht in Şirnex ein. Vesek machte geltend, dass die Diskreditierung des Mädchens als „Terroristin” der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) widerspreche. Außerdem verwies Vesek auf Protokolle der türkischen Sicherheitsbehörden zu Zusammenstößen während der Ausgangssperren in Hezex. Laut Polizei habe es auf offener Straße keine einzige Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften gegeben. „Wenn es doch selbst den Behörden zufolge keine Zusammenstöße im Freien gegeben hat, um was für eine Operation soll es sich gehandelt haben, in deren Verlauf Fatma Erarslan getötet wurde? Und vor allem: Auf welche Weise wurde das Mädchen getötet?”, fragt der Jurist zu Recht.
Gericht: Kein Anlass für Ermittlungen
Das Gericht in Şirnex hat den Einspruch von Veysel Vesel inzwischen abgelehnt. Es sehe keinen Anlass, die Wiederaufnahme der Ermittlungen anzuordnen, da „nach Sichtung der Beweise die Annahme, dass mögliche Tatverdächtige freigesprochen werden, wahrscheinlich ist“. Im Übrigen sei das Opfer „bereits tot“. Wegen eines Verfahrenshindernisses seien daher keine weiteren Ermittlungen zu führen.
Mahsuni Karaman, der Anwalt des inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, sagte nach der Entscheidung des Gerichts: „Der Terrorvorwurf und das Ausweisen von Opfern als vermeintliche Terroristen sind beliebte Mittel in der Türkei, um zu Töten und Morde juristisch ungesühnt zu lassen. Eine wirkliche Justiz ist etwas anderes.“