Einen Monat nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 verkündete Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan das Ende des Friedensprozesses der türkischen Regierung und der PKK. Prompt ging die AKP wieder zur Strategie des Staatsterrors gegen die kurdische Bevölkerung über. Es folgte eine über mehrere Monate andauernde Militärbelagerung in Städten wie Amed (Diyarbakir), Şirnex (Şırnak), Cizîr (Cizre) und Nisêbîn (Nusaybin), der Hunderte Menschen zum Opfer fielen. Fast vier Jahre danach ist die genaue Zahl noch immer nicht bekannt.
Über Cizîr ließ die Regierung unter Erdoğan am 4. September 2015 eine erste Ausgangssperre verhängen. Bis an die Zähne mit konventionellem Rüstungsgut bewaffnet, griff das türkische Militär neun Tage lang die damals etwa 115.000 Einwohner zählende Kreisstadt in der Provinz Şirnex an. Eine Gruppe Jugendlicher stellte sich der zweitgrößten NATO-Armee entgegen. 21 Tote, dutzende Verletzte und hunderte zerstörte Häuser und Wohnungen hatte der erste Angriff des türkischen Staates auf Cizîr zur Folge.
Zweite Belagerung von Cizîr
Am 14. Dezember 2015 begann die zweite Belagerung von Cizîr, die erst am 1. März 2016 beendet wurde. Fast drei Monate lang bombardierte die türkische Armee Cizîr aus der Luft und vom Boden aus. Die Polizei und das Militär nahmen ganze Viertel unter Feuer, zerstörten die Telefon-, Strom- und Wasserversorgung und kesselten Tausende Menschen ein. Bewohner*innen, die in den Kellern ihrer Wohnhäuser Schutz vor den genozidalen Angriffen suchten, wurden von der türkischen Armee auf grausame Art ermordet. In den 79 Tagen, die die verhängte Ausgangssperre andauerte, wurden mindestens 280 Menschen von türkischen Sicherheitskräften getötet. Etwa 150 der Opfer wurden in den Stadtteilen Cûdî und Nur in den „Todeskellern” bei lebendigem Leib verbrannt. Andere starben an unbehandelten Schussverletzungen, weil das Militär keine Krankenwagen durchließ.
Nach Schussverletzung: Medizinische Behandlung durch EGMR-Verfügung
Helin Öncü, eine damals 20-jährige Studentin, überlebte das Massaker von Cizîr. Am 21. Januar 2016 wurde sie im Viertel Cûdî von Militärs angeschossen. Drei Frauen, darunter auch Asya Yüksel, die damalige Ko-Vorsitzende des Volksrats von Cizîr, die später in einem der Keller verbrannte, eilten ihr unter einem Kugelhagel zur Hilfe. Durch eine einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die vom Rechtsanwalt Ramazan Demir erwirkt worden war, damit Öncü medizinische Hilfe erhält, konnte sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Nach ihrer Entlassung wurde Öncü vorübergehend festgenommen und angeklagt. Der Vorwurf: „Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates”. Zwei Monate später wurde auch ihr Verteidiger Ramazan Demir zur Fahndung ausgeschrieben und in Istanbul verhaftet. Weil er sich wegen der Vergehen gegen das Recht auf Leben und der Aushebelung jeglichen Rechts während der Ausgangssperre in Cizîr an das Verfassungsgericht und an den EGMR gewandt hatte, warf ihm der Istanbuler Generalstaatsanwalt vor, das „internationale Ansehen der Türkei gefährdet“ zu haben. Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft wurde Demir im September 2016 aus dem Gefängnis entlassen.
Selbstverwaltung - Gefahr für die Staatssicherheit
Doch womit begründete die türkische Regierung den Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Jahr 2015? Kurz vor der ersten Ausgangssperre in Cizîr war in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert worden, die einen demokratischen Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“ darstellte. In Nordkurdistan wurde damals schon länger die autonome Organisation im Stil von Kantonen diskutiert, die auch Teil des Parteiprogramms der HDP ist und die Antithese zur offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis bildet. Auch in Cizîr, in der die HDP im Juni 2015 fast 92 Prozent der Stimmen bekam (an die AKP gingen lediglich 4,3 Prozent), war die Selbstverwaltung ausgerufen worden. Für die türkische Regierung Grund genug, Nordkurdistan dem Erdboden gleichzumachen.
Überlebende wegen „Gefährdung der Sicherheit der Türkei“ angeklagt
Seit dem Ende der Ausgangssperren zwischen 2015 und 2016 wurden gegen unzählige Überlebende und Zeugen der Militärbelagerung Verfahren nach Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches eingeleitet. Der Artikel, auf den sich auch die Anklage gegen Helin Öncü stützt, ist der schwerstwiegende des türkischen Gesetzbuches und setzt in jedem Fall Gewaltanwendung voraus – die in den belagerten Städten jedoch ausschließlich vom Staat ausging.
EGMR weist Klage zu Todeskellern von Cizîr ab
Im November 2018 wurden die Geschehnisse zur Zeit der Ausgangssperre in Cizîr vor dem EGMR verhandelt - und wegen Nichtzuständigkeit abgewiesen. Konkret ging es um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Orhan Tunç war Ende 2015 von Sicherheitskräften angeschossen worden. Da der Krankenwagen nicht zu ihm durchgelassen wurde, erlag er seinen Verletzungen.
Die Straßburger Richter befassten sich inhaltlich nicht mit der Klage und entschieden, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse. Es seien noch zwei Klagen beim Verfassungsgericht anhängig und diese müssten abgewartet werden, bevor sich der EGMR mit dem Fall befassen könne. Außerdem stünde den Klägern ebenfalls der Gang zum türkischen Verfassungsgericht offen.
Die Verteidigung argumentierte mit der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Kriegsmitteln in Wohngebieten, wie es in Cizîr geschehen ist. Die Klage beruhte auf der Verletzung des in der Internationalen Konvention der Menschenrechte geschützten Rechts auf Leben, dem vollständigen Fehlen einer unabhängigen Untersuchung des Todes von Orhan Tunç sowie dem Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung und dem Recht auf Privatleben im Zusammenhang mit den Ausgangssperren.
Lebenslange Haft ohne einen einzigen Beweis
Gegen Helin Öncü ist vor zwei Tagen vor dem 2. Schwurgericht in Şirnex verhandelt worden. Ohne einen einzigen Beweis dafür, die „Sicherheit der Türkei gefährdet“ zu haben, wurde die 23-Jährige in Abwesenheit zu einer erschwerten lebenslangen Haft verurteilt, die nach gültiger Rechtsprechung bis zum physischen Tod dauert. Öncü, die bei den Kommunalwahlen am 31. März für die HDP in den Stadtrat von Qoser (Kızıltepe) gewählt wurde, muss mit dem Urteil gerechnet haben: Am Donnerstag wurde sie in der westtürkischen Provinz Edirne verhaftet. Sie hatte versucht, über den Grenzfluss Mariza (Evros) nach Griechenland zu fliehen. Mittlerweile wurde sie in das Frauengefängnis von Edirne überstellt.