EGMR weist Klage zu Todeskellern von Cizîr ab

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klage gegen den türkischen Staat über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr abgewiesen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klage über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr wegen Nichtzuständigkeit abgewiesen. Die Straßburger Richter befassten sich inhaltlich nicht mit der Klage und entschieden, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse. Es seien noch zwei Klagen beim Verfassungsgericht anhängig und diese müssten abgewartet werden, bevor sich der EGMR mit dem Fall befassen könne. Außerdem stünde den Klägern ebenfalls der Gang zum türkischen Verfassungsgericht offen.

Bei den Verfahren ging es um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Orhan Tunç war 2015 von Sicherheitskräften angeschossen worden. Da der Krankenwagen nicht zu ihm durchgelassen wurde, erlag er seinen Verletzungen. Beide Anträge wurden vom EGMR von 35 Anträgen als Pilot-Verfahren ausgewählt. Dieses Verfahren trifft für einen Pilot-Fall eine Musterentscheidung, der Vorbild für unzählige rechtlich gleichgelagerte Fälle bildet, die dann in einem beschleunigten Verfahren beim EGMR entschieden werden.

Die Verteidigung argumentierte mit der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Kriegsmitteln in Wohngebieten, wie es in Cizîr geschehen ist. Die Klage beruhte auf der Verletzung des in der Internationalen Konvention der Menschenrechte geschützten Rechts auf Leben, dem vollständigen Fehlen einer unabhängigen Untersuchung des Todes von Orhan Tunç sowie dem Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung und dem Recht auf Privatleben im Zusammenhang mit den Ausgangssperren.

Was war geschehen?

Am 4. September 2015 verhängte die Türkei über die nordkurdische Kreisstadt Cizîr (Cizre) eine Ausgangssperre. Es war die erste einer langen, bis heute nicht abreißenden Kette von Ausgangssperren. Während dieser ersten Ausgangssperre griff der türkische Staat mit allen Kräften, die ihm dabei zur Verfügung standen, bis an die Zähne bewaffnet mit konventionellen Waffen, neun Tage lang die Stadt an. Eine Gruppe stellte sich ihnen damals entgegen. 21 Tote, Dutzende Verletzte und Hunderte zerstörte Häuser und Wohnungen hatte der neuntägige Angriff auf Cizîr zur Folge.

Zweite Belagerung in Cizîr

Am 14. Dezember 2015 begann die zweite Belagerung der damals etwa 115.000 Bewohner umfassenden Stadt. 79 Tage lang bombardierte die türkische Armee Cizîr sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus. Die Polizei und das Militär nahmen ganze Viertel unter Feuer, zerstörten die Telefon-, Strom- und Wasserversorgung und kesselten mehrere tausend Menschen ein. Bewohner, die in den Kellern ihrer Wohnhäuser Schutz vor den Angriffen suchten, wurden auf grausame Art ermordet. In diesen 79 Tagen sind mindestens 259 weitere Menschen von türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Wegen dieser brutalen Vorgehensweise gegen die Verletzten, die sich zu ihrem eigenen Schutz in den Untergeschossen der Gebäude verschanzten, werden die Keller „Keller des Grauens" genannt. Die Leichen von insgesamt 177 Menschen, darunter 25 Kindern, wurden aus den Trümmern in den Vierteln Cudî und Sur geborgen. Allein in drei Kellern, die der breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, kamen jeweils 31, 62 und 50 Menschen ums Leben.

Fall Orhan Tunç: Türkei ignorierte Eilentscheidung des EGMR

Orhan Tunç hatte sich verletzt in einen Keller geflüchtet, das Gebäude wurde von türkischen Sicherheitskräften blockiert. Sein Bruder, der Ko-Vorsitzende des Volksrates von Cizîr, Mehmet Tunç, leitete beim EGMR eine Klage ein und erwirkte eine Eilentscheidung, wonach der türkische Staat zum Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit alle seine Möglichkeiten einsetzen müsse. Die Regierung in Ankara ignorierte die Entscheidung und ließ den Mann sterben. Mehmet Tunç starb wenige Tage später ebenfalls im Februar 2016. Er wurde mit Dutzenden anderen bei lebendigem Leib in einem der Keller von Cizîr verbrannt. Daraufhin führten der Vater Ahmet Tunç und die Ehefrauen der beiden Brüder die Klagen weiter. Ramazan Demir, Anwalt von Mehmet und Orhan Tunç, erklärte gegenüber ANF: „Im Fall von Orhan Tunç geht es um die Verletzung des Rechts auf Leben und das Folterverbot, hier durch das Fernhalten von Hilfe und die Nichtbefolgung der Eilentscheidung des EGMR.“ Im Fall von Ömer Elçi geht es um die Lebensbedingungen unter der Ausgangssperre. Elçi und seine Familie befanden sich unter Winterbedingungen ohne Brennstoff gezwungenermaßen 24 Stunden am Tag in der Wohnung und erlitten Schäden durch den Beschuss des Viertels mit Artillerie. Die einzelnen Aspekte beider Verfahren tauchen in allen anderen Fällen wieder auf.

EGMR-Entscheidung ist gewissenlose Rechtsblindheit

Demir kritisierte die Entscheidung und erklärte, das Gericht habe unter dem Einfluss der türkischen Regierung gestanden. Der Anwalt sagte: „Nach dem Tod dieser Menschen haben wir drei Jahre lang Tag und Nacht, trotz zehntausender Seiten an Dokumenten, tausenden Seiten Verteidigungsschriften, Inhaftierung und Drohungen mit Entschlossenheit weitergemacht. Nun zu verkünden, wir sollten doch zum Verfassungsgerichtshof gehen, ist nichts weiter als gewissenlose, rechtliche Blindheit.“ Der EGMR färbe so den türkischen Verfassungsgerichtshof schön, und die Familien und Anwälte, die dort ihre Klagen trotz Repression und Verhaftungen führen, seien dem türkischen Staatsrecht schutzlos ausgeliefert.

Unbekannte Zahl von Toten in den Kellern von Cizîr

Der UNHCR beschrieb das Bild von Cizîr als Weltuntergangsszenario. Viele Menschenrechtsorganisationen bezeichneten das Massaker als Kriegsverbrechen. Ramazan Demir erklärte dazu: „Weder der EGMR noch der türkische Staat oder irgendeine andere internationale Institution können eine genaue Zahl derer benennen, die in Cizîr gestorben sind. Die Zahlen, die uns erreicht haben, sind unterschiedlich und der Staat gibt sowieso keine Zahlen heraus. In 262 Fällen konnten die Identitäten der Opfer festgestellt werden, weitere 18 Menschen sind noch immer auf dem Friedhof der Namenslosen begraben. Wir wissen aber auch von acht oder neun Leichen, die bisher nicht geborgen wurden. Wir haben auch dazu Anträge eingereicht. Einige Leichen sind so verbrannt, dass man nicht einmal ihre Anzahl feststellen kann.“

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hielt fest, dass von den Ausgangssperren 1,6 Millionen Menschen betroffen waren und mindestens 355.000 Menschen zur Flucht gezwungen wurden.