Cizîr-Verfahren vor Menschenrechtsgerichtshof
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist heute über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr verhandelt worden. Das Urteil steht noch aus.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist heute über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr verhandelt worden. Das Urteil steht noch aus.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist heute über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr (Cizre) verhandelt worden. Konkret ging es bei der Verhandlung um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Orhan Tunç war 2015 von Sicherheitskräften angeschossen worden. Da der Krankenwagen nicht zu ihm durchgelassen wurde, erlag er seinen Verletzungen. Beide Anträge wurden vom EGMR von über dreißig Anträgen als Präzedenzfälle ausgewählt.
An der heutigen Verhandlung nahmen die Rechtsanwält*innen Ramazan Demir und Newroz Uysal, die HDP-Abgeordneten Ayşe Acar Başaran und Hüseyin Kaçmaz, der ehemalige HDP-Abgeordnete Faysal Sarıyıldız sowie Leyla Imret als ehemalige Bürgermeisterin von Cizîr teil. Von den Angehörigen waren unter anderem die Witwe von Orhan Tunç, Güler Tunç, sowie die Witwe seines ebenfalls ermordeten Bruders Mehmet Tunç, Zeynep Tunç, anwesend.
Ausweichende Antworten des türkischen Staates
Nach der dreistündigen Verhandlung gab Rechtsanwalt Ramazan Demir eine kurze Erklärung ab. Demir erläuterte, dass die Fälle Tunç und Elçi Pilotverfahren seien. Die Verteidigung basiere auf der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Kriegsmitteln in Wohngebieten, wie es in Cizîr geschehen ist. Das Gericht habe direkte Fragen an die Verteidigung des türkischen Staates gestellt, unter anderem zum Ausmaß der damaligen Operationen und dem Tod von Orhan Tunç. Außerdem sei gefragt worden, ob irgendwelche Maßnahmen getroffen wurden, um den Tod von Zivilisten zu verhindern, so Demir.
„Auf die meisten Fragen hat die türkische Regierung ausweichend geantwortet. Zumindest gehen wir davon aus, dass das Gericht keine befriedigenden Antworten erhalten hat. Wir haben fast alle in Cizîr begangenen Rechtsverletzungen zur Sprache gebracht. Unsere Redezeit war allerdings auf 25 Minuten begrenzt, daher konnten wir nicht alle Beweise und Expertisen vorlegen“, erklärte der Rechtsanwalt nach der Verhandlung
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet werden.
Was geschah in Cizîr?
Am 4. September 2015 verhängte die Türkei über Cizîr eine erste Ausgangssperre. Es war die erste einer langen bis heute nicht abreißenden Kette von Ausgangssperren. Während dieser ersten Ausgangssperre griff der türkische Staat mit allen Kräften, die ihm dabei zur Verfügung standen, bis an die Zähne bewaffnet mit konventionellen Waffen, neun Tage lang die Stadt an. Eine Gruppe Jugendlicher stellte sich ihnen damals entgegen. 21 Tote, Dutzende Verletzte und Hunderte zerstörte Häuser und Wohnungen hatte der neuntägige Angriff des türkischen Staates auf Cizîr zur Folge. Der Widerstand der Bevölkerung und die Reaktion der Öffentlichkeit führten dazu, dass die erste Ausgangssperre dieser Art nur neun Tage andauerte und es den Kräften des Staates, trotz des Einsatzes aller Art schwerer Waffen, nicht gelang, in die Gebiete, die sich im Widerstand befanden, einzudringen.
Über die Kreisstadt in der Provinz Şirnex wurde am 14. Dezember 2015 erneut eine Ausgangssperre verhängt, die erst am 1. März 2016 wieder vollständig aufgehoben wurde. Bei den 79 Tage währenden Kämpfen starben 66 Mitglieder der zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) und 213 Zivilist*innen. Über 150 Menschen wurden in den Stadtteilen Cûdî und Nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den berüchtigten Todeskellern bei lebendigem Leib verbrannt.