Nachdem die Demokratische Partei der Völker (HDP) bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 mehr als 13 Prozent der Stimmen bekam und damit das Streben Erdoğans nach einem Präsidialsystem abbremste, verkündete der türkische Staatspräsident das Ende des Friedensprozesses mit der PKK. Dies hatte zur Folge, dass der schmutzige Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung wieder ausgeweitet wurde. Wenige Wochen später drangen am 7. August 2015 türkische Sicherheitskräfte in Silopiya (Provinz Şirnex/Şırnak) unter dem Deckmantel „Operation“ in die Viertel Zap und Barbaros ein. Im Grunde handelte es sich dabei um einen Kleinkrieg, den drei Zivilisten nicht überlebten. 15 weitere Menschen gerieten ebenfalls ins Visier der vermeintlichen Sicherheitskräfte. Sie überlebten die Verletzungen, die ihnen Scharfschützen zugefügt hatten, nur knapp.
Als Reaktion auf die systematische Unterdrückung und Repressionspolitik des Despoten Erdoğan und seiner AKP wurde wenige Tage später in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert, die den demokratischen Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“ darstellte. Nordkurdistan diskutierte damals schon länger die autonome Organisation im Stil von Kantonen, deren Verständnis die Antithese zur offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis bildet. Ankara reagierte mit voller Härte gegen die selbstverwalteten Orte. Der über mehrere Monate andauernden Militärbelagerung in Städten wie Sûr, Şirnex, Cizîr und Nisêbîn fielen Hunderte Menschen zum Opfer, die genaue Zahl ist noch immer nicht bekannt. Nach Angaben der HDP kamen allein in Cizîr mindestens 280 Menschen ums Leben, viele von ihnen in den berüchtigten Todeskellern. In 262 Fällen konnte die Identität der Opfer festgestellt werden, weitere 18 Menschen sind noch immer auf dem Friedhof der Namenlosen begraben. Die Städte existieren teilweise nicht mehr und sind vom Staat regelrecht dem Erdboden gleichgemacht worden. So wurden beispielsweise in Nisêbîn sechs der fünfzehn Stadtteile im Zentrum der Stadt vollständig zerstört und rund 6.000 Gebäude abgerissen oder schwer beschädigt. Mindestens 30.000 Menschen verloren ihr zu Hause.
Seit April 2018 wird in Mêrdîn (Mardin) gegen 50 Aktivist*innen verhandelt, die im Zuge der Belagerung von Nisêbîn festgenommen wurden und seit dem 26. Mai 2016 in Untersuchungshaft sitzen. Der Vorwurf lautet in allen Fällen: „Verletzung der territorialen Integrität der Türkei”. Viele sind bereits aufgrund ihrer unter Folter erpressten Aussagen verurteilt worden. Seit Montag wird der Prozess fortgesetzt. An der gestrigen Verhandlung nahmen jedoch nur einige der Angeklagten teil. Die Verhandlung begann erst, nachdem alle Angehörigen und Prozessbeobachter*innen einer polizeilichen GBT-Prüfung (Allgemeine Datensammlung) unterzogen waren. Anschließend wurde die Umgebung des Gerichtssaals vollständig abgeriegelt. Seit Januar 2018 läuft auch ein abgetrenntes Verfahren gegen 17 Jugendliche, die ebenfalls aus der belagerten Stadt evakuiert und inhaftiert wurden.
„Ich wurde gefoltert und bin erblindet“
Als erster Angeklagter kam gestern Osman Bozkurt zu Wort. Er erklärte, dass den Beschuldigungen in der Anklageschrift keinerlei Beweise zu Grunde liegen und wies die Anklage zurück. Bozkurt berichtete auch von schweren Misshandlungen im Gewahrsam: „Im Gewahrsam wurde ich sechs Tage lang unmenschlich gefoltert. Folter ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Obwohl die Türkei immer wieder von ihrem Gesetz gegen Folter spricht, wird Folter weiterhin angewendet. Mich hat man sowohl physisch als auch psychisch gefoltert. Mein Körper ist noch immer von den Spuren gezeichnet. Ich wurde mit Tritten, Faustschlägen und einem mir unbekannten Gegenstand misshandelt. Durch die Schläge wurde ich auf einem Auge blind. Sollte eine gerichtsmedizinische Einrichtung zu diesem Zweck eine Untersuchung durchführen, fordere ich, dass der Bericht dazu direkt an dieses Gericht weitergeleitet wird.“
Bozkurt wies anschließend darauf hin, dass alle Aussagen unter Druck und ohne Anwalt zustande kamen. Außerdem seien er und die anderen Aktivist*innen massiv von den vermeintlichen Sicherheitskräften bedroht worden: „Sie sagten uns immer wieder: ‚Dankt der HDP auf Knien, dass sie eure Namen an die Presse weitergegeben haben. Sonst hätten wir euch wie die in Cizre verbrannt.‘ Sie haben uns gefoltert. Ich nehme an, dass es sich nicht nicht um normale Sicherheitskräfte handelte, sondern um illegal eingesetzte Personen.“
„Der Staat ist in Nisêbîn zusammengebrochen“
Weiter führte Bozkurt an: „Die Institution der türkischen Politik ist zusammengebrochen. Das, was in Nisêbîn geschehen ist, geschah im Zusammenhang mit eben diesem Zusammenbruch. Der Staat war dort am Ende, er hatte keinen Erfolg. Dieser Gerichtssaal ist der beste Beweis dafür. Der Staat musste sich, nachdem er mit der Realität von Nisêbîn konfrontiert war, selbst demaskieren, die institutionalisierte Politik wurde abgelöst. Leider befindet sich auch die Judikative in der Hand der AKP, die versuchte, die moralische und politische Struktur von Nisêbîn zu vernichten. Aber alle sollen wissen; diese Struktur kann nicht zerstört werden. Auch eine so ignorante Partei wie die AKP sollte dies wissen. In Nisêbîn sollte der Freiheitswillen des kurdischen Volkes zur Kapitulation gezwungen werden. Sie haben es nicht geschafft. Der Staat hat sich dort selbst vernichtet. Alle Institutionen der Republik liegen unter den Trümmern von Nisêbîn.“
Botschaft gegen die Isolation Öcalans
Bozkurt wies in seiner Erklärung ebenfalls auf die fortgesetzte Isolationshaft von Abdullah Öcalan hin: „Die kurdische Bevölkerung hat mit Hilfe der Philosophie von Herrn Öcalan die rassenfanatische und kolonialistische Politik scheitern lassen und setzt ihren Freiheitskampf fort.“ Das Modell der basisdemokratischen Selbstverwaltung sei der „Ausweg aus der Dunkelheit“ für den gesamten mittleren Osten, so Bozkurt weiter. „In der Geschichte wurde versucht, die Philosophie des heiligen Abraham und von Sokrates zu isolieren. Heute jedoch hat sie gewonnen. Öcalans Modell von der Demokratischen Nation und der Selbstverwaltung ist auf ähnliche Weise aufgeblüht. Auch wenn versucht wird, sie zu unterdrücken, hat die Philosophie Öcalans bereits begonnen zu leben. Das ist meine absolute Überzeugung.“
Das Gericht entschied, am 18. Oktober die anwaltlichen Plädoyers anzuhören. Der Prozess wird heute fortgesetzt.