Vater von Cemile Çağırga verhaftet
Der Vater der zehnjährigen Cemile Çağırga, deren Leichnam während der Ausgangssperre in Cizîr nach der Ermordung durch türkische Soldaten von ihren Eltern in eine Kühltruhe gelegt worden war, wurde verhaftet.
Der Vater der zehnjährigen Cemile Çağırga, deren Leichnam während der Ausgangssperre in Cizîr nach der Ermordung durch türkische Soldaten von ihren Eltern in eine Kühltruhe gelegt worden war, wurde verhaftet.
Kurz nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 verkündete Staatspräsident Erdoğan das Ende des Friedensprozesses der türkischen Regierung und der PKK. „Politiker mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen sollten ihre Immunität verlieren und juristisch belangt werden. Wer Terroristen unterstützt, muss den Preis dafür bezahlen“, sagte Erdoğan damals und zielte damit auf Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Die Partei hatte bei den Parlamentswahlen über 13 Prozent der Stimmen bekommen und damit verhindert, dass Erdoğans AKP die absolute Mehrheit erreicht. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş hatte daraufhin erklärt, Erdoğan habe einen geplanten Aufruf des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan zur Niederlegung der Waffen durchkreuzt.
Im August wurde in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert, die einen demokratischen Gegenentwurf zum von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“ darstellte. In Nordkurdistan wurde damals bereits seit geraumer Zeit die autonome Organisation im Stile von Kantonen diskutiert, die auch Teil des Parteiprogramms der HDP ist und deren Verständnis die Antithese zur offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis bildet. Auch in der Kreisstadt Cizîr (Cizre), in der die HDP im Juni 2015 fast 92 Prozent der Stimmen bekam (an die AKP gingen lediglich 4,3 Prozent der Stimmen), war die Selbstverwaltung ausgerufen worden.
Im September vernahm die Bevölkerung in den nun selbstverwalteten Gebieten Durchsagen aus den Lautsprechern, mit denen die türkischen Sicherheitskräfte Ausgangssperren über einzelne Viertel und ganze Orte verhängten. Damit begannen auch in Cizîr neun blutige Tage, an denen das Militär, Sondereinsatzkräfte und Polizisten Wohnhäuser, Telefon-, Strom- und Wasserversorgung unter Feuer nahmen und 21 Bewohner vor ihrer Tür und bei dem Versuch, Verletzte zu bergen, erschossen wurden. In einem von einer Delegation bestehend aus 300 Anwälten veröffentlichten Bericht hieß es nach den Ausgangssperren: „Es handelte sich nicht um einen wechselseitigen Konflikt, sondern um einseitige Angriffe der Polizei auf Anwohner. Es wurde festgestellt, dass alle von der Polizei Ermordeten vollständig unbewaffnet waren und es sich bei ihnen um gewöhnliche Anwohner handelte.“ Elf der Toten starben durch Kopfschüsse. Auch zur Hilfe gerufene Krankenwagen wurden beschossen.
Zu den Opfern der türkischen Staatsgewalt gehört auch die zehnjährige Cemile Çağırga, die am 7. September 2015 im Viertel Cudi von einem Geschoss getroffen wurde, das sogenannte Sicherheitskräfte aus einem gepanzerten Fahrzeug abfeuerten, berichteten Augenzeugen. Ihr Vater Ramazan hatte einen Krankenwagen gerufen, aber zur Antwort bekommen, dass kein Wagen kommen könne. Cemiles Eltern versuchten, den toten Körper ihrer Tocher zur Autopsie auf den Schultern aus dem Haus zu tragen, als auf sie geschossen wurde und sie zurück ins Haus flüchten mussten. Cemiles Mutter Emine hatte damals gesagt: „Nachdem ich sie gewaschen hatte, färbte ich ihre Hände und ihr Haar mit Henna, weil sie das so liebte.“ Anschließend wurde der Leichnam des Mädchens in ein Tuch gewickelt, bevor es in eine Kühltruhe gesetzt wurde, die ein Schwager der Familie leergeräumt und ins Haus gebracht hatte.
Es gibt Fotos, die Cemile seitlich auf einem weißen Tuch liegend zeigen. Auf diesen Bildern ist auch das knopfgroße Einschussloch auf ihrem Rücken deutlich zu sehen.
Verhaftung von Vater Ramazan Çağırga
Vergangenen Donnerstag ist es in Cizîr zu einer weiteren Festnahmewelle gekommen. Die Polizei stürmte dabei zahlreiche Häuser und Wohnungen in der Kreisstadt und nahm 30 Personen fest. Gestern fand in Şirnex (Şırnak) die richterliche Vernehmung von vorerst 14 der Festgenommenen statt. Wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ hat das Gericht in vier Fällen Untersuchungshaft angeordnet. Bei den Verhafteten handelt es sich neben Veysi Durgut, dem Kandidaten der HDP bei den Parlamentswahlen für die Provinz Manisa, auch um Ramazan Çağırga, Vater der getöteten Cemile, der seit Aufhebung der Ausgangssperre bereits unzählige Male willkürlichen Festnahmen ausgesetzt wurde. Mittlerweile wurden Durgut und Çağırga zusammen mit Selamet Mat und Osman Erkul in das Gefängnis Typ T von Şırnak überführt. 16 weitere Personen, die ebenfalls am Donnerstag festgenommen worden waren, befinden sich noch immer in Polizeigewahrsam.
Die Familie Çağırga hat schon einmal Angehörige durch einen Angriff der Sicherheitskräfte verloren. 1992 starben Mutter, Vater, die älteste Tochter, ein Bruder, dessen Ehefrau und eine Nichte von Ramazan Çağırga bei der Bombardierung des Hauses, vor dem Cemile von einer Kugel getroffen wurde.