Sûr: Der Staat soll uns in Ruhe lassen
Der Pfarrer der Kirche, der Imam der Moschee, die ältere Frau, all diese Menschen fordern eins: Der Staat, der die urbane Struktur ihrer Heimat zerstört hat, soll sie endlich in Ruhe lassen.
Der Pfarrer der Kirche, der Imam der Moschee, die ältere Frau, all diese Menschen fordern eins: Der Staat, der die urbane Struktur ihrer Heimat zerstört hat, soll sie endlich in Ruhe lassen.
Der Pfarrer der Kirche, der trotz aller Angriffe des Staats das Viertel Sûr nicht verlässt, der Imam der Moschee, die ältere Frau, die versucht mit ihren Kindern in einem Zelt zu überleben, das sie in den Trümmern ihres Hauses aufgestellt hat, all diese Menschen fordern eins: Der Staat, der die urbane Struktur ihrer Heimat zerstört hat, soll sie endlich in Ruhe lassen.
Zwei Jahre sind vergangen, seit im November 2015 eine Ausgangssperre in Amed (Diyarbakır) über den Stadtteil Sûr verhängt wurde. Die Zerstörung, die im März 2016 mit der Enteignung des gesamten Stadtteils begann, setzt sich bis heute fort.
AKP-Funktionäre behaupten anhand von Beispielen wie Toledo, dass Sûr zu einem „Zentrum der Anziehungskraft“ werde und die Häuser wieder aufgebaut würden. Der Wiederaufbauplan von Sûr macht jedoch deutlich, dass all diese Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen: In 15 Vierteln der Altstadt wurden auf insgesamt 368 Flächen 6.300 Grundstücke verstaatlicht.
Die Geschichte wurde zerstört
Während die Ausgangssperren zu erheblichen kulturellen und menschlichen Zerstörungen führten, wurden auch heilige Stätten, die als gemeinsamer Glaube und kulturelles Erbe der Menschheit gelten, ruiniert. Kirchen verschiedener Glaubensrichtungen, Häuser, Residenzen, Bäder dieser historischen Stadt wurden durch das Verstaatlichungsgesetz zerstört.
Das zwischen 1564 und 1567 erbaute Behram Pascha Bad, die Hacı Hamit Moschee sowie die 1500 Jahre historische Vergangenheit aufweisende und aufgrund ihres auf vier Säulen stehenden Minaretts beispiellose Şex Mutahar Moschee, die armenisch-katholische Kirche, das Mehmed Uzun-Haus, die Prinzenresidenz, die Protestantenkirche, die chaldäische Kirche Mor Pedrium und die größte armenische Kirche des Nahen Ostens, die St. Giragos-Kathedrale, all diese Gebäude wurden zum Ziel schwerer Waffen und erlitten während der Belagerung großen Schaden.
Sechs Polizeiwachen werden gebaut
Nach dem Abriss der Altbauten von Sûr wurde deutlich, dass in den Vierteln, in denen die Ausgangssperre noch anhält, die von der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI erbauten Häuser architektonisch nicht mit den historischen Häusern von Sûr übereinstimmen. Nach Angaben der Architektenkammer wurde behauptet, es gäbe einen „Wiederaufbauplan für den Schutz" von Sûr, und die Bebauung würde im Rahmen des städtischen Erhaltungsplans durchgefürt werden. Am Ende entstand ein anderes Projekt. Zu dieser Projektänderung gehört unter anderem die Errichtung von sechs Polizeiwachen. In den Vierteln Hasırlı, Cevatpaşa, İskender Paşa, Melik Ahmet und Ali Paşa haben die Bauarbeiten bereits begonnen. Außerdem wurden Routen gebaut, die diese Polizeiposten miteinander verbinden. Allerdings hat man die urbane Struktur der Stadt, als die Straßen erweitert wurden, in keinster Weise berücksichtigt. Informationen darüber, was mit den zerstörten historischen Gebäuden geschehen soll, gibt der Erhaltungsplan nicht her.
Nachdem 82 % von Sûr enteignet wurden, drängte der Staat die Menschen zu TOKI. Tausende Menschen in den Vierteln von Alipaşa und Lalebey wurden gezwungen, im Rahmen der seit dem 23. Mai anhaltenden Abrissarbeiten ihre Häuser zu verlassen. Bürger*innen, die dem nicht nachkamen und Widerstand leisteten, wurde während dem Fastenmonat Ramadan zur Strafe das Wasser und der Strom abgestellt. Denen, die der Staat zu TOKI drängte, wurden „vergünstigte“ Wohnungen außerhalb der Stadt angeboten.
Das Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung, das den Menschen schon bei der vorangegangenen Zerstörung TOKI-Wohnungen „angeboten” hatte, setzte erneut den selben Nötigungsplan in die Tat um. Das Ministerium versprach den Bewohner*innen von Alipaşa und Lalebey staatliche Wohnungen unter der Voraussetzung, das Viertel Sûr zu verlassen. Aber die, die die TOKI-Wohnungen nicht akzeptieren wollten, mussten an den Stadtrand oder in die Stadtteile Bağlar oder Şehitlik ziehen. Die Menschen aber, die an Sûr festhalten, möchten einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Assyrer*innen sind einem kulturellen Völkermord ausgesetzt
Yusuf Akbulut, Geistlicher der syrisch-orthodoxen St.-Marien-Kirche, macht darauf aufmerksam, dass die Zusammenstöße für den Abriss der Häuser nur ein Vorwand seien, um die Völkergemeinschaft voneinander zu trennen. Rechtliche Schritte im Zusammenhang mit dem Abriss seien bereits eingeleitet worden, da der Staat beabsichtige, im Rahmen des Urbanisierungsprojekts die kulturelle Struktur der Stadt zu zerstören. „Über mehrere Monate hinweg wurde das Viertel angegriffen. Damals haben wir Sûr nicht verlassen und werden es jetzt auch nicht tun. Um die historische Struktur des Viertels zu bewahren, werden wir Widerstand leisten. Koste es, was es wolle“, so der Geistliche.
Obwohl es im Viertel zu keinen Zusammenstößen mehr kam, hält die Zerstörung im Belagerungszustand weiter an. Fast überall in Sûr stößt man auf gepanzerte Militärfahrzeuge und Polizeikontrollposten. Das ganze Viertel ist eine einzige Freiluft-Polizeistation. Zudem hat der Verkauf von Drogen, Prostitution und Überwachung zugenommen. Dass Assyrer*innen einem kulturellen Völkermord ausgesetzt sind, erklärte Akbulut mit folgenden Worten: „Sûr ist einer der letzten Orte, an dem wir unsere Kultur am Leben erhalten können. Sollten wir das Viertel verlassen, wird es uns nicht weiter möglich sein, unseren Glauben zu praktizieren. Allein aus diesem Grund werden wir Sûr nicht verlassen.“
Wer sich als religiös bezeichnet, muss etwas gegen diese Grausamkeit tun
Nimetullah Esen, ein per Dekret entlassener Imam von Sûr, betont, der Staat habe es auf die unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Kulturen abgesehen: „Sie wollen sowohl die kurdische Kultur als auch die historische Struktur von Sûr zerstören.“
Esen, der die Meinung vertritt, dass Religion in ein Propagandamittel der Politik verwandelt wurde, erklärte weiter: „Welche Art von Glaube, welche Religion sieht das Töten so vieler Menschen als halal (nach dem islamischen Recht erlaubtes) an? In Sûr wurden Menschen getötet. Man hat ihre Häuser zerstört. Das hat nichts mit dem Islam zu tun. Keine Religion kann so etwas rechtfertigen. Sie sollen sich vor Gott fürchten. Das Töten so viel junger Menschen kann nicht mit Religion legitimiert werden.”
Der Imam erinnerte daran, dass Êziden, Muslime, Assyrer und viele andere Völker seit Jahrhunderten gemeinsam in Sûr leben und betonte: „Diese Regierung brachte die Völker dazu, sich feindselig gegenüber zu sein. Und jetzt werden Orte, an denen verschiedene Glaubensrichtungen miteinander leben, dem Erdboden gleich gemacht. All diejenigen, die eine religiöse Überzeugung haben, müssen sich gegen diese Grausamkeit stellen.“
Sûr bedeutet Ehre. Ich werde meine Ehre nicht dem Staat überlassen
Beritan Uzan, die Sûr trotz der Auseinandersetzungen nicht verließ, sagt, der Staat wolle das Viertel entmenschlichen: „Auch wenn wir sterben müssen, wir werden Sûr nicht verlassen. Sie zerstörten unsere Häuser. Sie haben unsere jungen Menschen ermordet. Wir haben alles um des Viertels willen verloren. Was auch immer sie tun werden, wir werden Sûr nicht verlassen.“
Uzan erwähnt, dass ihnen Geld angeboten wurde, wenn sie das Viertel verlassen würden. „Sie denken, sie könnten uns mit Geld täuschen. Lasst uns dem Staat das Geld, was sie uns angeboten haben, um das Viertel zu verlassen, geben, damit sie aus Sûr verschwinden. Dieser Ort hier ist unsere Vergangenheit. Es ist unsere Kindheit. Wir sind in diesen Straßen aufgewachsen. Sie wollen uns in ihren Wohnkomplexen ansiedeln, um unsere Kultur zu zerstören. Damit meine Kinder hier aufwachsen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun.“
Die in Sûr aufgewachsene Uzan berichtet weiter, dass es dem Staat auch mit Waffengewalt nicht möglich war, sie aus dem Viertel zu treiben. „Weder Panzer noch Kanonen trieben uns aus Sûr. Jetzt schänden sie unser Viertel mit Drogen und Prostitution. Als sich die Jugend in Sûr widersetzte, kämpften sie nicht nur gegen den Faschismus des Staates. Sie kämpfte auch gegen die Prostitution. Wir werden an der Stelle weitermachen, wo sie den Kampf beenden mussten. Sûr bedeutet für uns Ehre. Ehre wird nicht dem Staat überlassen.“
Die Bewohner*innen halten in Zelten der Zerstörung stand
Nachdem das Haus der Familie Ak zerstört wurde, stellten sie ein Zelt in Sûr auf. Trotz des kalten Wetters verlassen sie das Viertel nicht. Die 1990 aus dem Dorf Kazıktepe im Landkreis Çınar in das Viertel Alipaşa emigrierte Familie gehört zu den Widerstand leistenden Bewohner*innen von Sûr. Mit ihren zwei kleinen Kindern führen sie in dem Zelt einen Überlebenskampf. Die 56-jährige Mevlüde Ak sagt: „Meine Kinder sind hier aufgewachsen. Sie erblickten hier das Licht der Welt, wir können an einem anderen Ort nicht leben. Unser Haus haben sie zerstört. Der Staat versucht, uns mit Hunger und Durst zu erziehen. Wir erleben doch bereits seit Jahren die Ungerechtigkeiten dieses Staates. Sie können uns von hier fortjagen, wir werden an anderer Stelle des Viertels unser Zelt erneut aufschlagen. Wir besitzen zwar keine Haus mit Mauern, jedoch ein mobiles Zelt. Für diese Häuser wurde ein hoher Preis bezahlt. Deshalb werden wir den Widerstand in unserem Zelt fortsetzen.“