Cizîr und das tote Mädchen in der Tiefkühltruhe

2015 wurden in Nordkurdistan erste Ausgangssperren ausgerufen, die sich tief in das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft eingebrannt haben. Sie werden als Wendepunkt in Erinnerung bleiben, markieren aber nur den Beginn einer dunklen Zeitepoche.

„Der Mensch ist der Nicht-Mensch, wirklich Mensch ist derjenige, dessen Menschsein vollständig zerstört wurde. Das Paradox besteht dabei im folgenden: Wenn vom Menschlichen wirklich nur der Zeugnis ablegen kann, dessen Menschsein zerstört worden ist, dann bedeutet dies, dass die Identität von Mensch und Nicht-Mensch nie vollkommen ist, dass es nicht möglich ist, das Menschliche vollständig zu zerstören, dass immer ein Rest übrigbleibt. Dieser Rest ist der Zeuge.“ Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (2003).

Das Jahr 2015 hat sich tief in das kollektive Bewusstsein der kurdischen Gesellschaft eingebrannt. Es wird als unumkehrbarer Wendepunkt in Erinnerung bleiben: Nach dem einseitigen Abbruch der Friedensverhandlungen mit der PKK durch die AKP-geführte Regierung, den Erdoğan bereits am 20. März signalisierte – nur einen Tag vor der am kurdischen Neujahrstag Newroz in Amed (türk. Diyarbakir) verlesenen Friedensbotschaft von Abdullah Öcalan – hatte Ankara seine Taktik gegenüber den Kurd*innen geändert. Das Stichwort: Ausgangssperren.

Das politische Kalkül zeichnete sich spätestens am 5. Juni ab, als inmitten einer HDP-Wahlkundgebung in Amed eine Bombe eines polizeibekannten Attentäters der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) explodierte. Fünf Menschen starben, sechzehn weitere wurden verletzt. Mit den Parlamentswahlen am 7. Juni nahm die neue Erdoğan’sche Taktik immer konkretere Züge an, als es der HDP (Demokratische Partei der Völker) gelang, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und mit 80 Abgeordneten in die Nationalversammlung zu ziehen. Mit den sechs Millionen Stimmen, die die HDP auf sich vereinte, durchkreuzte sie damals – wenn auch nur vorübergehend – das von der AKP vorgeschlagene „Präsidialsystem“, durch das Erdoğan später qua Verfassung zum einzigen „starken Mann“ in der Türkei wurde. Es folgte ein Schmierentheater um vermeintliche Uneinigkeiten bei der Regierungsbildung.

Massenbeerdigung in Cizîr, 2015

Anschläge, Polizistenmorde, Bombardierung der Qendîl-Berge

Am 20. Juli riss ein anderer Attentäter in Pirsûs (Suruç) 33 hauptsächlich junge Menschen in den Tod, die sich vor ihrer Abreise nach Kobanê im Kulturzentrum Amara aufhielten. Einen Tag später wurden in Serê Kaniyê (Ceylanpınar) zwei türkische Polizisten erschossen. Der Doppelmord war für die Regierung ein gefundenes Fressen, ihn als Vorwand für den erneuten Beginn des Krieges zu benutzen. Umgehend wurde die Verantwortung der PKK zugeschoben, eine vermeintliche Splittergruppe bekannte sich zu dem Attentat – später sollte der Gouverneur von Riha (Urfa) gegenüber der ehemaligen HDP-Abgeordneten Leyla Güven jedoch äußern, dass als einzig möglicher Täter eigentlich nur ein dritter Polizist in Frage kam, ein ehemaliger Mitbewohner, die Ermittlungen aber verschleppt wurden. Am 24. Juli 2015 wurde der Dialogprozess zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Befreiungsbewegung mit der Bombardierung der Qendîl-Berge durch die türkische Luftwaffe offiziell für „endgültig beendet“ erklärt.

Proklamierung der Selbstverwaltung

Unter dem Eindruck des Wiederaufflammens der Feindlichkeiten gegenüber der kurdischen Bevölkerung wurde im August in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert – der demokratische Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“. Die Bevölkerung wollte sich autonom im Stil von Kantonen verwalten. Die Selbstverwaltung als Organisationsprinzip, deren Verständnis die Antithese zur offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis bildet, ist auch Teil des Parteiprogramms der HDP. Die Antwort des Staates auf die Forderungen nach regionaler Autonomie ließ nicht lange auf sich warten.  

Auch in der etwa 130.000 Einwohner*innen zählenden Kreisstadt Cizîr (Cizre), in der die HDP bei den Juni-Wahlen fast 92 Prozent der Stimmen bekam (an die AKP gingen lediglich 4,3 Prozent), war die Selbstverwaltung ausgerufen worden. Cizîr sollte auch die Stadt werden, in der die neue Taktik gegen den kurdischen Teil der Bevölkerung als erstes umgesetzt wurde. Geprobt worden war zuvor jedoch in Silopiya, als am 7. August türkische Sicherheitskräfte unter dem Deckmantel „Operation“ in die Viertel Zap und Barbaros eindrangen und einen Kleinkrieg gegen die Anwohner*innen führten. Drei Menschen wurden dabei getötet, 15 weitere verletzt – von paramilitärischen Scharfschützen, die sich auf Häuserdächern positioniert hatten.

Blick auf Cizîr

„In diesem Krieg seit Juli 2015 geht es nicht mehr um die Macht im Staat, sondern um das pure Überleben der kurdischen Bevölkerung und Bewegung. Etwa 10.000 Soldaten, Polizisten und Spezialeinheiten nehmen an den Operationen gegen die Dörfer und Ortschaften teil, die sie durch Panzerbeschuss und Bombardierung aus der Luft in Trümmerlandschaften verwandeln. Über 200.000 Kurdinnen und Kurden sind im eigenen Land auf der Flucht. An die 200 tote Zivilisten werden beklagt. Die Regierung hat zudem neue Todesschwadrone eingesetzt, von denen die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet: „So setzen die Sicherheitskräfte, wenn sie in die Städte vordringen, als Vorhut die als besonderes brutal geltenden ‚Esedullah Timleri’ ein, über denen ein Schatten des Geheimnisvollen liegt. Sie dringen in die Häuser ein, zerstören, töten.“ Es soll sich um „verurteilte Kriminelle“ und „Personen, die mit dem ‚Islamischen Staat’ in Verbindung“ stehen, handeln. Da die Kämpfer und Kämpferinnen der PKK sich in die Kandil-Berge zurückgezogen hatten und in diese Kämpfe nicht eingegriffen haben, musste die Zivilbevölkerung eigene bilden, die sich der Armee entgegenstellen.“ Norman Paech, Jurist und emeritierter Professor für Völkerrecht

 

Erste Ausgangssperre in Cizîr

Am 4. September verhängte der türkische Staat über Cizîr eine erste Ausgangssperre. Es war abends, als über die Lautsprecher der Moscheen das Verbot, auf die Straße zu gehen, verlesen wurde. Doch bereits eine Woche zuvor hatte der Staat tausende Polizisten, Soldaten, Sondersicherheitskräfte und hunderte gepanzerte Fahrzeuge nach Cizîr verlegt und in den dortigen Schulen untergebracht. Noch in der Nacht, in der die Ausgangssperre ausgerufen worden war, wurden alle großen Straßen unter Kontrolle gebracht, um in die Gebiete, die im Widerstand für die Selbstverwaltung waren, vorzudringen. Damit begannen neun blutige Tage in Cizîr, an denen der Staat Wohnhäuser, Telefon-, Strom- und Wasserversorgung unter Feuer nahm und 21 Menschen ermordete:

Emine Çağırga mit einem Bild ihrer Tochter Cemile

Mehmet Emin Levent (21), Hacı Ata Borçin (70), Gadban Bülbül (78), Osman Çağlı (18), Özgür Taşkın (17), Zeynep Taşkın (18), Maşallah Edin (35), Mehmet Sait Nayci (17), Mehmet Dökmen (71), Şahin Açık (70), Sait Çağdavul (19), Seyit Eşref Erdin (59), Selman Ağar (9), Bahattin Sevinik (50), Mehmet Erdoğan (75), İbrahim Çiçek (80), Meryem Süne (53), Suphi Saral (50), Bünyamin İrci (14), Muhammed Tahir Yaramuş (35 Tage alt) und Cemile Çağırga. Das zehnjährige Mädchen steht synonym für den ersten Zerstörungsfeldzug in der Stadt. Ihr Name lautete ohnehin nur auf dem Papier Cemile. Ihre Eltern nannten sie von Geburt an Cizîr.

Zerstörtes Wohnhaus in Cizîr

Drei Tage in einer Kühltruhe

Das Haus, in dem Cemile mit ihrer Familie lebte, befindet sich im Viertel Cûdî, am Fuße eines Hanges, und bietet einen Ausblick auf die gesamte Stadt. Am Abend des dritten Tages der Ausgangssperre, die Geräusche von Explosionen und Maschinengewehrsalven waren gerade etwas abgeklungen und Cemile hatte sich kurzzeitig vor das Haus gewagt, wurde das Mädchen von einem Geschoss getroffen, das aus einem Panzerfahrzeug abgefeuert wurde. Die Kugel durchbohrte ihr linkes Schulterblatt und blieb im Herzen stecken. Cemiles Mutter Emine, die damals 51 Jahre alt war, hörte noch, wie ihre Tochter „Mama“ rief. Sie rannte raus in den Garten, um das Mädchen auf die Seite zu ziehen, als auch auf sie geschossen wurde. Zusammen mit ihrem Mann gelang es ihr irgendwann, Cemile ins Haus zu tragen. Einige Augenblicke hielt Emine noch die Hand ihrer Tochter. Wenig später war „Cizîr“ tot.

Ramazan, der Vater des Mädchens, hatte einen Krankenwagen gerufen, aber zur Antwort bekommen, dass kein Wagen kommen könne. Die Nacht verbrachte Emine deshalb mit Cemile im Arm. Am Morgen versuchte die Familie, den toten Körper des Mädchens zur Autopsie auf den Schultern aus dem Haus zu tragen, als auf sie geschossen wurde und sie zurück ins Haus flüchten musste. Emine erzählte damals: „Nachdem ich sie gewaschen hatte, färbte ich ihre Hände und ihr Haar mit Henna, weil sie das so liebte.“ Danach wurde Cemile in ein Tuch gewickelt, bevor sie in eine Kühltruhe gelegt wurde, die ein Schwager der Familie leergeräumt und ins Haus gebracht hatte. Bei den Neuwahlen im November 2015 erlangte die AKP ihre absolute Mehrheit zurück.

Vater von Bünyamin İrci

Morde von Cizîr bleiben vor türkischer Justiz ungesühnt

Die 21 Morde zwischen dem 4. und 12. September 2015 in Cizîr wurden von der Justiz nicht gesühnt. Was den Umgang mit der kurdischen Bevölkerung betrifft, so hat sich in der Türkei eine Kultur der Straflosigkeit verfestigt. In den meisten Fällen haben die Gerichte mit der Begründung, dass die Täter nicht feststellbar seien, Beschlüsse über eine dauerhafte Fahndung erlassen, was einer Einstellung der Ermittlungen gleichkommt. Oder aber die Toten wurden als „Terroristen” diskreditiert, um die Verfahren gänzlich einzustellen, weil die Operationen auf dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ durchgeführt worden seien. Bei einigen der eingestellten Verfahren soll es sich laut den Behörden sogar um „natürliche Todesfälle“ handeln. Völkerrechtsbruch, Gewaltwillkür und die Billigung von Straflosigkeit gehören zur Tradition von Erdoğans Türkei. Vor allem die faktische Einstellung der Ermittlungen unter dem Label „unbekannte Täter“ wird innerhalb der kurdischen Gesellschaft als eine Fortsetzung der Straflosigkeit der extralegalen Hinrichtungen der 1990er Jahre betrachtet.

Zweite Belagerung in Cizîr

Am 14. Dezember 2015 begann in Cizîr die zweite Belagerung. 79 Tage lang bombardierte die türkische Armee die Stadt sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus. Die Polizei und das Militär nahmen ganze Viertel unter Feuer, zerstörten die Infrastruktur und kesselten mehrere tausend Menschen ein. Bewohner*innen, die in den Kellern ihrer Wohnhäuser Schutz vor den Angriffen suchten, wurden auf besonders grausame Weise ermordet. In diesen 79 Tagen sind mindestens 259 weitere Menschen von türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Wegen dieser brutalen Vorgehensweise gegen die Verletzten, die sich zu ihrem eigenen Schutz in den Untergeschossen der Gebäude verschanzten, werden die Keller „Keller des Grauens” genannt. Die Leichen von insgesamt 177 Menschen, darunter 25 Minderjährigen, wurden aus den Trümmern in den Vierteln Cûdî und Sûr geborgen. Allein in drei Kellern, die der breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, kamen jeweils 31, 62 und 50 Menschen ums Leben.

Berxwedan war fünf Monate alt, als seine Mutter Zeynep Taşkın von einem Scharfschützen erschossen wurde

Fall Orhan Tunç: Türkei ignorierte Eilentscheidung des EGMR

Orhan Tunç hatte sich verletzt in einen Keller geflüchtet, das Gebäude wurde von türkischen Sicherheitskräften blockiert. Sein Bruder, der Ko-Vorsitzende des Volksrates von Cizîr, Mehmet Tunç, leitete beim EGMR eine Klage ein und erwirkte eine Eilentscheidung, wonach der türkische Staat zum Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit alle seine Möglichkeiten einsetzen müsse. Die Regierung in Ankara ignorierte die Entscheidung und ließ den Mann sterben. Mehmet Tunç starb wenige Tage später ebenfalls im Februar 2016. Er wurde mit Dutzenden anderen bei lebendigem Leib in einem der Todeskeller von Cizîr verbrannt.

Genau drei Jahre später, im Februar 2019, wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen den türkischen Staat über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr ab. Bei den Verfahren ging es um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Beide Anträge wurden vom EGMR aus 35 Anträgen als Pilot-Verfahren ausgewählt. 

Massenbeerdigung in Cizîr

Die Verteidigung argumentierte mit der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Kriegsmitteln in Wohngebieten, wie es in Cizîr geschehen ist. Die Klage beruhte auf der Verletzung des in der Internationalen Konvention der Menschenrechte geschützten Rechts auf Leben, dem vollständigen Fehlen einer unabhängigen Untersuchung des Todes von Orhan Tunç sowie dem Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung und dem Recht auf Privatleben im Zusammenhang mit den Ausgangssperren. Die Straßburger Richter entschieden jedoch, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse. Es seien noch zwei Klagen beim Verfassungsgericht anhängig und diese müssten abgewartet werden, bevor sich der EGMR mit dem Fall befassen könne. Außerdem stünde den Klägern der Gang zum türkischen Verfassungsgericht offen.