In zahlreichen Städten in der Türkei und Nordkurdistan wird heute der Toten des Selbstmordanschlags von Pirsûs (türk. Suruç) vor fünf Jahren gedacht. Bei dem Anschlag am 20. Juli 2015 wurden 33 junge Menschen getötet, 104 Menschen wurden verletzt.
Eine Gedenkveranstaltung in Pirsûs ist von der Polizei angegriffen worden. Der Tatort – das Kulturzentrum Amara – wurde bereits seit dem frühen Morgen von Sicherheitskräften belagert. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung, darunter Überlebende und Angehörige der Todesopfer, mussten sich am Eingang durchsuchen lassen. Als der ESP-Vorsitzende Şahin Tümüklü im Garten des Kulturzentrums eine Rede halten wollte, drangen Polizisten in das Gelände ein und forderten, dass die Fotos der Anschlagsopfer abgehängt werden. Während einer Ansprache der HDP-Abgeordneten Feleknas Uca ging die Polizei zum Angriff über und zerfetzte die Bilder. Den Angehörigen wurde auch der Zutritt zum Friedhof verwehrt. Die Menschenmenge protestierte mit einem Sit-In und forderte in Sprechchören Gerechtigkeit.
KCK: „Vom MIT geplant und ausgeführt“
Der Anschlag vor fünf Jahren ereignete sich, als sich auf Aufruf der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) 300 junge Menschen am Kulturzentrum Amara versammelten, um vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abzuhalten. Die geplante Fahrt nach Nordsyrien sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen.
Mehmet Yapalıal, damaliger Polizeipräsident in Pirsûs, hatte bereits im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni 2015, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor. Er ist der einzige, der im andauernden Prozess um den Anschlag von Pirsûs bisher verurteilt wurde - allerdings nur zu einer symbolischen Geldstrafe, weil er keine Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt traf. Yapalıal zog es vor, gegen die jungen Menschen vorzugehen, die für den Wiederaufbau von Kobanê angereist waren.
Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat in einer vergangene Woche veröffentlichten Stellungnahme erneut den türkischen Geheimdienst MIT für den Anschlag verantwortlich gemacht. „Diese jungen Menschen wurden nicht vom IS, sondern vom türkischen Staat getötet. Es war die Feindschaft von Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung gegenüber Rojava, die sie getötet hat. Das Massaker wurde vom MIT geplant und ausgeführt“, so die KCK.
In der Erklärung wird weiter dargelegt, dass in der damaligen Zeit viele Angriffe auf die politische Opposition unter dem Deckmantel des IS durchgeführt wurden. Am 5. Juni 2015 fand ein Anschlag mit mehreren Todesopfern auf eine Wahlkampfkundgebung der HDP statt. Am 25. Juni verübte der IS ein Massaker in Kobanê, bei dem Hunderte Menschen brutal ermordet wurden. Am 20. Juli schließlich kam es zum Anschlag in Pirsûs. Der blutigste Anschlag in der Geschichte der Türkei fand am 10. Oktober 2015 bei einer Friedenskundgebung in Ankara statt, über hundert Menschen kamen ums Leben. „Im Anschluss wurden kurdische Städte angegriffen, Hunderte junge und alte Menschen, Frauen und Kinder wurden getötet, über zehn Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dass all diese Massaker im gleichen Zeitraum stattgefunden haben und die AKP die Opposition angegriffen hat, ist kein Zufall. Alle Angriffe sind das Ergebnis des Zerschlagungsplans, der am 30. Oktober 2014 vom Nationalen Sicherheitsrat beschlossen wurde.“
Die Anschläge seien zwar vom IS verübt worden, der Auftraggeber sei jedoch der MIT gewesen, erklärt die KCK. „Als Erdogan erkannt hat, dass er sich nicht an der Macht halten kann, hat er eine Allianz mit dem IS und der MHP geschlossen. Zuvor waren ohnehin Hunderte Agenten in den IS eingeschleust worden. Der MIT selbst hat in der Türkei Abteilungen eingerichtet, über die neue IS-Mitglieder gewonnen wurden. Zeitgleich hat er aus den weltweit in die Türkei eingereisten IS-Sympathisanten Hunderte Agenten rekrutiert. Auf diese Weise hat die Türkei die Kontrolle über den IS gewonnen. Wer diese Tatsache nicht sieht, kann weder den IS begreifen noch herausfinden, wer die politische Kraft hinter den im Namen des IS begangenen Angriffen war.“