Istanbul: Menschenkette für die Toten von Pirsûs

Am 20. Juli jährt sich das Massaker von Pirsûs (Suruç) zum fünften Mal. Seitdem beharren die Hinterbliebenen der 33 Todesopfer und über hundert Verletzten auf Gerechtigkeit.

Trotz massiver Repression durch die Polizei haben Aktivist*innen zahlreicher Jugendorganisationen am Sonntag in Istanbul mit einer „Menschenkette für Gerechtigkeit“ an den nahenden Jahrestag des Massakers von Pirsûs (türk. Suruç) erinnert. An der Veranstaltung beteiligten sich unter anderem auch die HDP-Abgeordnete Dilşat Canbaz Kaya und die Ko-Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) Özlem Gümüştaş.

Nachdem Anfang 2015 das nordsyrische Kobanê vom sogenannten Islamischen Staat (IS) befreit wurde, rief die Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF) für den 19. bis 24. Juli zu einer Kampagne zum Wiederaufbau der durch die IS-Terroristen zerstörten Stadt auf. Aus mehreren Städten der Türkei und Nordkurdistans kamen daraufhin am 20. Juli etwa 300 Jugendliche in der Kreisstadt Pirsûs (Suruç) im Kulturzentrum Amara zusammen, um anschließend gemeinsam nach Kobanê einzureisen. Bereits im Vorfeld auf dem Weg dorthin hatte es immer wieder Provokationen mit Festnahmen durch Polizeikräfte gegeben.

Vor der Abreise nach Kobanê wollten die Jugendlichen noch eine Pressekonferenz im Amara abhalten. Um die Mittagszeit verursachte ein polizeibekannter Selbstmordattentäter des IS in direkter Umgebung der SGDF-Versammlung eine Explosion, bei der 33 hauptsächlich junge Menschen ihr Leben verloren. Weitere 104 Menschen wurden bei dem Anschlag teils schwer verletzt.

Fünf Jahre Suche nach Gerechtigkeit

Die Initiative der Suruç-Familien führt unter dem Motto „Gerechtigkeit für Suruç - Gerechtigkeit für jeden“ seit nunmehr fünf Jahren jeden 20. eines Monats in Istanbul einen Sitzstreik durch. Auch die heutige Menschenkette im Stadtteil Kadiköy stand unter demselben Leitsatz. Die Polizei versuchte die Aktion zu unterbinden und verwies auf Kontaktbeschränkungen, die wegen der Corona-Krise gelten. Von Zeit zu Zeit kam es deshalb zu heftigen Wortwechseln, die beteiligten Aktivist*innen warfen den Sicherheitskräften Willkür vor. Diese entgegneten zynisch, für die Sicherheit der Beteiligten im Einsatz zu sein. „Das hättet ihr vor der Explosion in Pirsûs tun sollen”, sagte ein Aktivist in Anspielung darauf, dass Hinweise zu dem Anschlag von der Polizei unterschlagen wurden. Mehmet Yapalıal, damaliger Polizeipräsident in Pirsûs, hatte bereits im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni 2015, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor. Er ist der einzige, der im andauernden Prozess um den Anschlag von Pirsûs bisher verurteilt wurde. Allerdings nur zu einer symbolischen Geldstrafe, weil er keine Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt traf. Yapalıal zog es vor, gegen die sozialistischen Aktivist*innen vorzugehen, die für den Wiederaufbau von Kobanê angereist waren. 

Performance im Polizeikessel

Eine Theaterperformance im Rahmen der Menschenkette am Hafenkai in Kadiköy musste im Polizeikessel stattfinden, dennoch schafften es Interessierte, der Gedenkveranstaltung zuzuschauen. Im Anschluss hielt die Ko-Vorsitzende der SDGF Alev Özkiraz eine Ansprache und sagte, dass der Kampf um Gerechtigkeit für die Toten von Pirsûs nicht beendet werde, ehe die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. „Das Massaker fand unter staatlicher Aufsicht statt. Wer annimmt, dass wir schweigen, der irrt sich. Wir sind hier, weil Gerechtigkeit auf der Straße ist, und wir werden nicht schweigen.” Zudem rief Özkiraz zur Teilnahme an einem zentralen Gedenken am 20. Juli vor dem Opernhaus Süreyya in Kadiköy einschließlich einer Demonstration auf.