Nachdem Anfang 2015 die nordsyrische Stadt Kobanê vom Islamischen Staat befreit wurde, rief die Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF) für den 19. bis 24. Juli zu einer Kampagne zum Wiederaufbau der durch die IS-Terroristen zerstörten Stadt Kobanê auf. Aus mehreren Städten der Türkei und Nordkurdistans kamen daraufhin am 20. Juli etwa 300 Jugendliche in der Kreisstadt Pirsûs (Suruç) im Kulturzentrum Amara zusammen, um anschließend gemeinsam nach Kobanê einzureisen. Bereits im Vorfeld auf dem Weg dorthin hatte es immer wieder Provokationen mit Festnahmen durch Polizeikräfte gegeben.
Um die Mittagszeit verursachte ein Selbstmordattentäter des IS in direkter Umgebung der SGDF-Versammlung eine Explosion, bei der 33 hauptsächlich junge Menschen ihr Leben verloren und 104 weitere Menschen teils schwer verletzt wurden.
Prozess ohne Anklageschrift und Angeklagte
Im Prozess zum Anschlag von Pirsûs wurde die erste Verhandlung über 21 Monate nach der Tat ohne einen einzigen Angeklagten durchgeführt. Auch gab es keine Anklageschrift, die verlesen werden konnte. Mehrmals wechselte der zuständige Staatsanwalt. Seit an der Prozesseröffnung am 4. Mai 2017 eine ETHA-Reporterin während der Verhandlung polizeilich festgesetzt wurde, um die Berichterstattung zu verhindern, werden die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt.
Hinweise auf Anschlag unterschlagen
Mehmet Yapalıal, damaliger Polizeipräsident von Suruç, hatte bereits im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor. Statt umfassende Sicherheitsvorkehrungen gegen die drohende IS-Gefahr zu treffen, hatte Yapalıal es vorgezogen, gegen die sozialistischen Aktivist*innen vorzugehen, die für den Wiederaufbau von Kobanê angereist waren. Dafür wurde er zu einer Zahlung von 7.500 TL „bestraft“.
34 Monate Suche nach Gerechtigkeit
Die Initiative der Suruç-Familien führt unter dem Motto „Gerechtigkeit für Suruç - Gerechtigkeit für jeden“ seit bereits 34 Monaten jeden 20. eines Monats einen Sitzstreik durch. Gestern trafen sich die Hinterbliebenen der Opfer im Istanbuler Stadtteil Kadıköy auf der Halitağa Caddesi. Murat Budak, Vater des in Pirsûs verstorbenen Vatan Budak, verlas im Namen der Suruç-Familien eine Erklärung.
„Diesen Monat werden wir unsere Suche nach Gerechtigkeit im Gerichtssaal fortsetzen. Am 29. Mai findet in Hilvan der nächste Verhandlungstag statt. Auch wir werden dort sein. Mitfühlende Menschen laden wir ein, uns nach Hilvan zu begleiten.
Überlebende des Anschlags im Gefängnis
Unsere Anwälte, Überlebende des Anschlags, Nebenkläger und Zeugen werden unrechtmäßig im Gefängnis festgehalten. Wir fordern ihre sofortige Freilassung und einen ordentlichen Prozess sowie die Bestrafung der Verantwortlichen des Massakers“.
Ihren Kampf für Gerechtigkeit werden die Familien von Suruç überall dort weiterführen, wo immer sie ihre Stimme erklingen lassen können. „Damit kein Traum unvollendet bleibt“, sagt Murat Budak.