Bericht: Isolation, medizinische Vernachlässigung, Zensur
Ein Bündnis aus Menschenrechtsorganisationen, Anwaltsverbänden und medizinischen Fachverbänden in der kurdischen Provinz Wan (tr. Van) hat einen umfassenden Bericht zu den Haftbedingungen in neun Gefängnissen im Raum Serhed sowie in der Schwarzmeerregion im Nordosten der Türkei vorgelegt. Der Bericht mit Fokus auf politische Inhaftierte dokumentiert systematische Einschränkungen der grundlegendsten Rechte von Gefangenen – von unzureichender medizinischer Versorgung bis hin zu umfassender Isolation – und ruft zur Abschaffung der Kontrollausschüsse im Strafvollzug auf.
Erstellt wurde der Bericht vom Gefangenenhilfsverein TUHAY-DER, der Juristenvereinigung ÖHD, der Anwaltskammer in Wan, dem Ortsverband der Gewerkschaft für Gesundheits- und Sozialdienste (SES) sowie der Ärztekammer für Wan und Colemêrg (Hakkari). Er basiert auf Besuchen in Haftanstalten in den Provinzen Wan, Agirî (Ağrı), Bedlîs (Bitlis), Reşqelas (Iğdır), Trabzon, Giresun und Rize. Präsentiert wurde er im Konferenzsaal der Anwaltskammer Wan durch den Juristen Özgür Ecer.
Unzureichende medizinische Versorgung und diskriminierende Behandlungen
Dem Bericht zufolge werden medizinische Überweisungen verzögert oder ganz verweigert, insbesondere wenn Gefangene sich weigern, sich Leibesvisitationen sowie Durchsuchungen im Intimbereich oder die Anwendung von Handfesseln gefallen zu lassen. Chronisch kranke und schwer erkrankte Gefangene bleiben dadurch oft ohne Behandlung.
Gefangene hätten zudem eingeschränkten Zugang zu Literatur, darunter eine Begrenzung auf drei bis zehn Bücher pro Person. Insbesondere kurdischsprachige Bücher und Briefe würden mit der Begründung „fehlende Übersetzung“ zurückgehalten. Auch der Zugang zu oppositionellen Zeitungen wie „Yeni Yaşam“, „Evrensel“ oder „BirGün“ werde häufig blockiert.
Fortdauernde Pandemie-Maßnahmen und soziale Isolation
Die Organisationen kritisierten, dass pandemiebedingte Einschränkungen wie das Verbot von Kursen, Sport- und Gemeinschaftsaktivitäten fortbestehen, obwohl sie offiziell nicht mehr notwendig seien. Die Gefangenen würden so in einem Zustand dauerhafter Isolation gehalten. In vielen Anstalten fehle die technische Infrastruktur für Videotelefonate, wodurch die politischen Gefangenen ihre ihnen zustehenden Kommunikationsrechte nicht wahrnehmen könnten – im Gegensatz zu Inhaftierten mit „gewöhnlichen Straftaten“, denen dieser Zugang häufig gewährt werde.
Auch regelmäßige Zellenkontrollen seien entartet, so der Bericht: Sie würden häufig dazu genutzt, persönliche Gegenstände zu beschädigen oder zu zerstören und seien begleitet von militärischem Drill.
Empfehlungen und politische Forderungen
Die Organisationen rufen unter anderem zur sofortigen Schließung des maroden L-Typ-Gefängnisses in Panos (Patnos) bei Agirî auf, das nach Angaben der Expert:innen unzumutbare hygienische und bauliche Zustände aufweise.
Darüber hinaus fordern sie:
▪ die uneingeschränkte Umsetzung des Rechts auf medizinische Versorgung für alle Gefangenen,
▪ ein Ende der diskriminierenden und selektiven Zensur von Publikationen und Medien,
▪ die Abschaffung von Buch- und Medienbeschränkungen sowie der Zensur oppositioneller TV-Sender,
▪ die Schaffung von Möglichkeiten zur sozialen Interaktion auch in Hochsicherheitsanstalten,
▪ die gesetzliche Verankerung von Alternativen zur Haft für schwer erkrankte oder haftunfähige Gefangene,
▪ die Abschaffung der aktuellen Verordnung über Kontrollausschüsse, die den Anstaltsleitungen weitreichende Entscheidungsmacht bei Haftdauer und Rechten der Gefangenen einräume.
Kritik an neuer Vollzugsverordnung
Besonders scharf kritisieren die Organisationen die im Jahr 2021 eingeführte Regelung über die sogenannten „Gefängnisbeobachtungskommissionen“. Diese Gremien, die sich aus dem Strafvollzugspersonal zusammensetzen, können auf Grundlage subjektiver Bewertungen die vorzeitige Entlassung politischer Gefangener blockieren – selbst bei Vorliegen positiver Gutachten, und damit gravierende juristische Befugnisse übernehmen. „Diese Praxis gibt der Gefängnisverwaltung faktisch unbegrenzte Macht, ohne Rechtsweg oder Kontrolle“, so Ecer. Die an dem Bericht beteiligten Organisationen fordern daher die vollständige Abschaffung dieser Regelung oder zumindest eine deutliche Einschränkung ihrer Befugnisse.