Der Anschlag von Pirsûs: Drei Jahre ohne Gerechtigkeit

Drei Jahre nach dem IS-Anschlag von Pirsûs (Suruç), der unter Aufsicht der Polizei und des türkischen Geheimdienstes MIT stattfand und 33 jungen Menschen das Leben kostete, sind die Verantwortlichen immer noch nicht benannt worden.

Seit drei Jahren beharren die Hinterbliebenen des IS-Anschlags von Pirsûs vom 20. Juli 2015 auf Gerechtigkeit und sind dabei kontinuierlicher Repression ausgesetzt. Dutzende Menschen, die das Attentat verletzt überlebten, sowie ihre eingeschalteten Anwältinnen und Anwälte wurden innerhalb der vergangenen drei Jahre verhaftet. Die Gräber einzelner Anschlagsopfer sind zerstört worden.

Die Zeit, in der der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan sein Ein-Mann-Regime aufbaute, begann mit Krieg, Massakern, Morden und einem politischen Vernichtungsfeldzug. Am 30. Oktober 2014 wurde im Nationalen Sicherheitsrat der Plan zur Niederschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung beschlossen. Eines der darauf folgenden Massaker war der Anschlag von Pirsûs. Nach der Revolution in Rojava und den für die HDP erfolgreichen Wahlen vom 7. Juni 2015 ließ Erdoğan offenbar aus Rachegelüsten den sogenannten Islamischen Staat mehrere blutige Angriffe im Land verüben.

Am 20. Juli 2015 kam es zu einem Selbstmordattentat in Pirsûs, als sich auf Aufruf der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) 300 junge Menschen im Kulturzentrum Amara versammelten, um vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abzuhalten. Die geplante Fahrt nach Kobanê sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen. Der polizeibekannte IS-Attentäter Abdurrahman Alagöz sprengte sich selbst in die Luft und riss 33 Menschen mit in den Tod. Über hundert Menschen wurden verletzt.

Nach diesem Massaker nutzte der türkische Staat den bis heute nicht aufgeklärten Mord an zwei Polizisten in Serêkaniyê (Ceylanpınar) als Vorwand, die Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan als Repräsentanten der kurdischen Befreiungsbewegung aufzukündigen und massive Luftangriffe auf Qendîl, Zap, Metîna, Garê, Haftanîn, Avaşîn und Xakurkê durchzuführen.

Der Anschlag von Pirsûs stellte den Beginn einer blutigen Zeit dar. Erdoğan tat alles, um die Hintergründe des Massakers zu vertuschen. Nicht gegen den IS, sondern gegen Mitglieder der HDP und SGDF begann eine Festnahmewelle. In Dutzenden Städten wurden Hunderte Menschen festgenommen und verhaftet.

Die Ermittlungsakte zu dem Anschlag wurde unter Geheimhaltung gestellt. Erst 18 Monate später wurde Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft forderte jeweils 104 Jahre Haft für Yakup Şahin, der wegen des Anschlags vom 10. Oktober 2015 in Ankara verhaftet worden war, sowie für Deniz Büyükçelebi und İlhami Ballı, von denen behauptet wurde, dass sie sich in Syrien aufhalten. Der Prozess begann 21 Monate nach dem Anschlag am 4. Mai 2017.

Mehmet Yapalıal, der Polizeichef von Pirsûs, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sich herausgestellt hatte, dass der Selbstmordattentäter der Polizei bekannt war und diese mit einem Anschlag gerechnet hatte. Für die Geldstrafe wurde eine Ratenzahlung gewährt.

Am 26. März 2018 fand eine Verhandlung im Prozess gegen zwei weitere Polizisten wegen Amtsmissbrauch und Fahrlässigkeit statt. Einer der angeklagten Polizisten, Ali Koçak, der in Untersuchungshaft sitzt, sagte beim Prozess aus, die Polizei sei über den Selbstmordattentäter informiert worden und habe keine Maßnahmen getroffen. In dem seit drei Jahren laufenden Verfahren ist keine einzige positive Entwicklung zu verzeichnen. Bisher wurden dreimal der ermittelnde Staatsanwalt und einmal die komplette Richterriege ausgetauscht.

Die Hintermänner des Anschlags von Pirsûs sind weiterhin ungeklärt. Die Angehörigen der Opfer, die Überlebenden, Zeugen und Nebenklageanwälte sind hingegen ständig mit Festnahmen und Verhaftungen konfrontiert. Verhaftet wurden unter anderem die Anwält*innen Özlem Gümüştaş und Sezin Uçar sowie von den verletzt Überlebenden Havva Cuştan, İlke Başak Baydar, Mazlum Demirtaş, Koray Türkay und Ali Deniz Esen.

Um die beharrlich Gerechtigkeit fordernden Angehörigen einzuschüchtern, hat der Staat sogar die Gräber der Opfer angreifen lassen. So wurde das Grab von Veysel Özdemir in Amed zwei Mal angegriffen. Auch das Grab der zwanzigjährigen Ece Dinç wurde von einer 15-köpfigen Gruppe angegriffen und die rote Fahne auf der Grabstätte verbrannt.

Das Grab des Englischlehrers Süleyman Aksu in Gever wurde vom Staat zerstört. Das Haus seiner Familie wurde nach dem Massaker von Pirsûs bei der Ausgangssperre in Gever ebenfalls zerstört, die Familie musste flüchten.

Şennur Ayaz Ünlü, die Mutter der bei dem Anschlag getöteten Polen Ünlü, verstarb im April 2018 an einem Herzinfarkt, ohne Gerechtigkeit für ihre Tochter erfahren zu haben. Sie wurde neben dem Grab ihrer Tochter beerdigt.

Die Hinterbliebenen des Anschlags von Pirsûs kommen weiterhin am 20. jeden Monats im Istanbuler Stadtteil Kadıköy zusammen, um Gerechtigkeit zu fordern. Für heute sind in zahlreichen Städten Gedenkveranstaltungen angekündigt.