1995 in Amed verschwunden
Die Initiative der Samstagsmütter hat zum 1055. Mal auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz für Gerechtigkeit und Aufklärung über das Schicksal von Menschen demonstriert, die in Staatsgewalt verschwunden sind. Im Mittelpunkt der dieswöchigen Mahnwache stand der Fall von Nurettin Çur, der vor 30 Jahren in Amed (tr. Diyarbakır) unter ungeklärten Umständen verschwand.
Mit Fotos der Verschwundenen und roten Nelken erinnerten Angehörige und Unterstützer:innen an die Opfer des Verschwindenlassens in staatlichem Gewahrsam. Die Menschenrechtsaktivistin und ehemalige Parlamentsabgeordnete Oya Ersoy verlas die Erklärung der Initiative und betonte, das Vorgehen gegen politisch Andersdenkende in den 1990er Jahren sei Teil einer bewussten staatlichen Repressionsstrategie gewesen.

„Das war kein Einzelfall – es war Politik“
„Die Praxis des Verschwindenlassens war Ergebnis der staatlichen Kriegspolitik“, erklärte Ersoy. Man werde nicht nachlassen, die Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu benennen und juristische Aufarbeitung einzufordern. „Jede Gesellschaft hat ein unveräußerliches Recht darauf, zu wissen, wer diese Verbrechen unter welchen Umständen verübt hat“, sagte sie. Ersoy warnte zudem vor der fortdauernden Straflosigkeit in der Türkei: „Solange die Justiz nicht unabhängig agiert, wird sich die Tradition der Straflosigkeit auch unter wechselnden Regierungen fortsetzen.“
Der Fall Nurettin Çur
Anschließend trug Ersoy den Fall Nurettin Çur vor. Der Kurde war zum Zeitpunkt seines Verschwindens 28 Jahre alt. Er lebte mit seiner schwangeren Frau im Kreis Rezan (Bağlar) und betrieb einen kleinen Lebensmittelladen. Wegen seiner politischen Aktivitäten sei er wiederholt bedroht worden, auch weil er kurdische Musik in seinem Geschäft laufen ließ, berichtete Ersoy. Am 27. Juni 1995 verließ er das Haus, um Waren einzukaufen – er kehrte nie zurück.
Erst drei Tage später erkannte die Familie, dass Nurettin Çur nicht wie zunächst angenommen eventuell noch in das Dorf seines kranken Vaters gefahren war. 15 Tage später erhielt dieser einen anonymen Anruf: „Dein Sohn ist in unseren Händen“, sagte eine unbekannte Stimme. Çur gilt seither als spurlos verschwunden. Es wird angenommen, dass er von Todesschwadronen des türkischen Staates ermordet wurde.

„Was bleibt, ist eine trauernde Mutter, eine Ehefrau und ein Kind, das seinen Vater nie kennenlernen durfte“, sagte Ersoy. Sie wies darauf hin, dass in dieser Zeit in der Region systematisch Folter, Verschleppung und Zwangsräumungen von Dörfern praktiziert wurden, und ergänzte: „Ganz gleich, wie viele Jahre vergehen, wir werden nicht aufhören, Gerechtigkeit zu fordern.“ Ersoy appellierte an den Staat, sich an rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien zu halten.
Brief von Çurs Mutter
Zum Abschluss der Kundgebung wurde ein Brief von Makbule Çur, der Mutter von Nurettin Çur, verlesen. Darin heißt es: „Seit 30 Jahren habe ich mein Zuhause nicht verlassen, in der Hoffnung, dass mein Sohn eines Tages zurückkehrt. Niemand hat unsere Stimme gehört. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf.“