Serdar Tanış seit 24 Jahren „verschwunden“
Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Verschwindenlassen des kurdischen Politikers Serdar Tanış fordert dessen Bruder Yakup Tanış eine umfassende gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der staatlichen Gewalt in den kurdischen Provinzen der Türkei. Serdar Tanış, damaliger Vorsitzender des Kreisverbands der Partei HADEP, wurde im Januar 2001 in der Zentrale der türkischen Militärpolizei in Silopiya (tr. Silopi) zuletzt lebend gesehen. Seitdem fehlt jede Spur.
Opfer eines unmoralischen Krieges
„Serdar war eines von Tausenden Opfern eines ungerechten und unmoralischen Krieges, den der türkische Staat gegen das kurdische Volk führt“, sagte Yakup Tanış, heutiger Ko-Vorsitzender der HDP in Silopiya, gegenüber ANF.
Staatliche Verantwortung und systematische Vertuschung
Obwohl es Zeugenaussagen und einen Richterspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gibt, wurden bis heute keine strafrechtlichen Konsequenzen gezogen. Der EGMR verurteilte die Türkei wegen Verstoßes gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention – das Recht auf Leben – und mangelnder Ermittlungen; ein Urteil, das laut Tanış ohne Wirkung blieb (Nr. 65899/01). „Die Täter wurden nie benannt, nie belangt. Der Staat spielt weiter die drei Affen“, so Tanış.
Serdar Tanış und Ebubekir Deniz erhielten vor ihrem „Verschwinden“ Morddrohungen vom informellen Geheimdienst der Militärpolizei (JITEM), damit sie ihre politischen Aktivitäten einstellen. | Foto © ANF
„Şirnex war ein Laboratorium staatlicher Gewalt“
Tanış beschreibt die Provinz Şirnex (Şırnak) mit Silopiya im Westen in den 1990er Jahren als „Testfeld für Repression und Gesetzlosigkeit“. Damals seien willkürliche Festnahmen, Folter und politische Morde systematisch erprobt und später auf andere Teile Kurdistans übertragen worden. „Şirnex war ein Labor staatlicher Gewalt. Serdar wurde bedroht, weil er es gewagt hatte, den HADEP-Kreisverband aufzubauen. Nur eine Woche nach der Eröffnung des Parteibüros wurde er zusammen mit einem Parteikollegen von einem zivilen Fahrzeug abgefangen, um zur Gendarmerie gebracht zu werden.
Ebubekir Deniz ebenfalls verschwunden
Er wehrte sich und gab an, dass er in seiner Funktion als örtlicher HADEP-Vorsitzender eine offizielle Vorladung verlange. Wieder einer Woche später wurde er telefonisch in das Hauptquartier der Gendarmerie bestellt. Ein Parteigänger, Ebubekir Deniz, war besorgt und begleitete ihn. Am Gebäudeeingang begegneten sie noch zwei Wachen aus unserem Dorf und grüßten sich – das war das letzte Lebenszeichen von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz“, so Yakup Tanış.
Zeugen ignoriert, Spuren verwischt
Trotz Zeugenaussagen, die belegten, dass Serdar Tanış und Ebubekir Deniz das Gendarmeriegebäude betreten hatten, erklärte die Behörde damals offiziell, sie seien nie dort gewesen. „Wir hatten eine ganze Reihe an Zeugen – selbst die Wachleute aus unserem eigenen Dorf, die meinen Bruder und seinen Freund zuletzt gesehen haben. Aber nichts wurde aufgeklärt.“
Internationale Aufmerksamkeit ohne Wirkung
Die Familien Tanış und Deniz führten über Jahre einen intensiven Rechtskampf, unterstützt von Menschenrechtsorganisationen und Anwält:innen wie Tahir Elçi, der 2015 selbst von einem Polizisten in Amed (Diyarbakır) erschossen wurde. Der Fall erlangte nationale Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch die Berichterstattung in der Zeitung „Radikal“. Der EGMR nahm die Klage in einem seltenen Schritt bereits nach fünf Stunden an, obwohl der nationale Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft war. Das Urteil: Die Türkei sei für das Verschwindenlassen von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz verantwortlich und habe keine effektive Untersuchung durchgeführt.
„Das war keine Einzeltat, sondern Teil eines Systems“
Für Yakup Tanış ist klar: Das Verschwindenlassen von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz waren keine Einzelfälle. „Tausende wurden verschleppt, gefoltert oder getötet“, sagt er. Die Verantwortung dafür liege beim Staat, nicht bei einzelnen Beamten. „Es handelt sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ohne Anerkennung und Aufarbeitung kann es keinen Frieden geben.“
Forderung nach Wahrheitskommission
Die Geschichte von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz steht exemplarisch für ein Kapitel türkischer Zeitgeschichte, das bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Forderung sei daher unmissverständlich: Eine demokratische Zukunft braucht die Aufarbeitung der Vergangenheit – und Gerechtigkeit für die Opfer, sagt Yakup Tanış. Er fordert die Einrichtung einer unabhängigen Wahrheitskommission, die Namen nennt, Akten offenlegt und Aufklärung schafft. „Politik kann nur auf Wahrheit und Gerechtigkeit aufbauen. Wenn der Staat weiter verleugnet, zersetzt er sich selbst.“