EGMR: HADEP-Politiker zu Unrecht verurteilt

Die Türkei hat vor zwanzig Jahren zehn HADEP-Politiker aus Sêrt wegen einem Sitzstreik gegen das staatliche „Verschwindenlassen“ zu Unrecht verurteilt und muss nun Entschädungen zahlen. Der EGMR sieht das Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt.

Die Verurteilung von zehn Mitgliedern der 2003 in der Türkei verbotenen kurdischen Partei HADEP wegen einem Sitzstreik gegen das staatliche „Verschwindenlassen“ von zwei Parteikollegen verstieß gegen ihr Recht auf Versammlungsfreiheit. Das hat eine dreiköpfige Kammer am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diese Woche entschieden (Nr. 26638/07). Die Türkei muss den Beschwerdeführenden nun insgesamt 15.000 Euro als Entschädigung zahlen.

Der Fall

Am 25. Januar 2001 wurden die HADEP-Politiker Serdar Tanış und Ebubekir Deniz im nordkurdischen Silopiya telefonisch in die Zentrale der türkischen Militärpolizei bestellt. Danach wurden die beiden Männer nie wieder gesehen. Sowohl Serdar Tanış, der ein halbes Jahr zuvor von der Hauptzentrale seiner Partei den Auftrag erhalten hatte, in Silopiya den Kreisverband der HADEP zu gründen, als auch Ebubekir Deniz erhielten vor ihrem „Verschwinden“ Morddrohungen vom informellen Geheimdienst der Militärpolizei (JITEM), damit sie ihre politischen Aktivitäten einstellten.

15-minütige Versammlung endet mit 15 Monaten Haft

Um gegen die Festnahme der beiden Politiker zu protestieren und ihre Freilassung einzufordern, versammelten sich am 4. Februar 2001 Menschen vor der HADEP-Zweigstelle in Sêrt (tr. Siirt), um im Rahmen eines Sitzstreiks eine Presseerklärung abzugeben. Das Sit-In wurde nach einer Viertelstunde friedlich beendet, dennoch ging die Polizei mit Gewalt gegen die Beteiligten vor und nahm insgesamt 41 Personen fest, gegen die Ermittlungsverfahren wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz Nr. 2911 eingeleitet wurde. Beim folgenden Prozess wurden alle Angeklagten zu einer Haftstrafe von jweils 15 Monaten und einer Geldstrafe im unteren dreistelligen Bereich verurteilt. Unter den Betroffenen waren auch der HADEP-Vorsitzende für die Provinz Sêrt Ahmet Konuk, der Kreis-Vorsitzende Abdurrahman Taşçı sowie die Vorstandsmitglieder Süleyman Yaş, Muhyettin Timurlenk, Abdullah Gök, Emin Batur, Ahmet Destan, Mehmet Emin Köneş, Bedrettin Polat und Aysel Adar, die nach der nationalen Rechtswegerschöpfung eine Beschwerde beim EGMR einlegten.

EGMR: Unverhältnismäßige Strafverfolgung

Vierzehn Jahre nach Einreichung der Beschwerde entschied der EGMR nun, dass die Verurteilungen nicht mit Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit regelt, vereinbar waren – „auch wenn die Demonstration ohne vorherige Genehmigung stattgefunden hat”. Die Presseerklärung sei friedlich gewesen, hätte keine Hassrede enthalten oder zu Gewalt aufgerufen. Deshalb habe es an einem sozialen Interesse für die Strafverfolgung gefehlt. Die Strafen gegen die Betroffenen seien damit unverhältnismäßig gewesen und unnötig in einer demokratischen Gesellschaft, so der EGMR. In seinem Urteil erinnert der europäische Menschengerichtshof auch an seine Entscheidung vom 14. Dezember 2010, wonach das Verbot der HADEP gegen die ebenfalls in Artikel 11 der EMRK gewährte Vereinigungsfreiheit verstoßen hat. Auch im Fall der „verschwundenen“ Serdar Tanış und Ebubekir Deniz hatte der EGMR die Türkei verurteilt. Die Verantwortlichen wurden von der türkischen Justiz nicht bestraft.

Yalçındağ: „Verspätete Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit“

Die Rechtsanwältin Reyhan Yalçındağ, die in den Fällen aus Sêrt den EGMR angerufen hatte, zeigte sich nicht sonderlich erfreut über das Urteil aus Straßburg. „Wie Adorno zu sagen pflegte; verspätete Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit. Das gilt für eine Reihe von Verfahren, die seit langen Jahren in Straßburg anhängig sind. Meiner Meinung nach ist das EGMR mitverantwortlich für die drastische Situation der kurdischen Politik in der Türkei”, so die Juristin aus Amed. Ein Blick auf die 20 Jahre, in denen Serdar Tanış und Ebubekir Deniz als vermisst gelten, reiche aus, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen: „In dieser Zeitspanne hat es keine einzige positive Veränderung gegeben. Der Druck gegen die kurdische Politik nimmt immer repressivere Formen an, gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Parlamentsabgeordnete und Parteimitglieder landen unter konstruierten Vorwürfen für lange Jahre hinter Gittern, werden mitten auf der Straße von sogenannten Sicherheitskräften misshandelt, in den Rathäusern der HDP regieren ernannte Treuhänder als Zwangsverwalter. Kurdische Politikerinnen und Politiker werden wegen der Ausübung ihrer Grundrechte verurteilt, weil die türkische Justiz die Menschenrechtskonvention vollkommen ignoriert. Das EGMR muss mehr tun, als 14 Jahre später symbolische Gerechtigkeit walten zu lassen.”

Die HADEP

Die „Partei der Demokratie des Volkes“ (kurdisch: Partiya Demokrasiya Gel, türkisch: Halkın Demokrasi Partisi) wurde 1994 gegründet und im März 2003 verboten. Zur Begründung des Verbots führte der türkische Verfassungsgerichtshof „separatistische Bestrebungen“ an. Gegen mehrere Dutzend Führungsfunktionäre verhängte das Gericht ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot. Davon war auch der Vorsitzende Murat Bozlak betroffen. Nach dem Verbot wurde das Parteivermögen eingezogen. Am 1. September 2003 wurde Beschwerde beim EGMR eingelegt.