Zwangsverwaltung als Herrschaftstechnik
Die Ernennung von Zwangsverwaltern wird seit vier Jahren vom türkischen Staat als Waffe gegen die kommunale kurdische Selbstverwaltung eingesetzt.
Die Ernennung von Zwangsverwaltern wird seit vier Jahren vom türkischen Staat als Waffe gegen die kommunale kurdische Selbstverwaltung eingesetzt.
Der zentralistisch organisierte türkische Staat billigte den Kommunen seit seinem Bestehen nur sehr eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse zu. Die Verwaltung der Städte und Provinzen lag beim Landrat oder dem Gouverneur. Dennoch begann das AKP-Regime nach den kommunalen Wahlerfolgen der HDP und ihrer Mitgliedspartei DBP alles daran zu setzen, die Kommunalverwaltungen komplett auszuschalten. Die kurdischen Rathäuser wussten ihre geringen Spielräume zu nutzen, bauten Initiativen, Räte und Frauenprojekte auf und führten das Konzept der genderparitätischen Doppelspitze im Bürgermeisteramt ein. Bezirksverwaltungen wie die von Amed-Sûr wurden zu Beispielen urbaner Demokratie. Die Popularität dieser multikulturellen Kommunalverwaltungen widersprach dem türkischen Paradigma von einer Nation, einer Sprache und einer Religion. Der Staat begann, mit Gewalt gegen die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vorzugehen. Zunächst folgte eine Verhaftungswelle der nächsten. Da damit die vielköpfigen basisdemokratischen Strukturen nicht zerschlagen werden konnten, griff das Regime zu radikaleren Methoden. Noch während des „Friedensprozesses“ brachte der türkische Staat den sogenannten „Çöktürme Planı“ – ein Begriff, den man sinngemäß als „Zersetzungsplan“ übersetzen kann – auf den Weg.
Eine wichtige Komponente des umfassenden Vernichtungsplans gegenüber der kurdischen Demokratie- und Freiheitsbewegung ist die Besetzung kommunaler Selbstverwaltungsstrukturen mit Zwangsverwaltern. Diese Praxis wird bis in die Gegenwart hinein angewandt. Um sie besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte.
Die kurdische Partei DEHAP hat 1999 bei den Kommunalwahlen in 37 Städten und Gemeinden gewonnen. In dieser Tradition errangen die immer wieder verbotenen Nachfolgeparteien der DEHAP 2004 56, 2009 99, 2014 102 und 2019 65 Bürgermeistermandate und es wurden 2004 762, 2009 808, 2014 1.300 und 2019 1.230 Mitglieder dieser Parteien in die Stadt- und Gemeinderäte gewählt.
Mit dem Widerstand für Selbstverwaltung begann 2016 ein neuer Prozess. Zu dieser Zeit regierte die HDP Mitgliedspartei DBP in 102 Städten und Gemeinden. Die DBP war als regionale Vertreterpartei der landesweit organisierten HDP in den Kommunen in Nordkurdistan angetreten. Jeden Tag wurden Antipropaganda-Nachrichten durch die Medien der AKP-Regierung verbreitet, in denen die DBP als Organisatorin der Aufstände in den Städten dargestellt wurde. Auf die Propaganda folgten Festnahmen und Amtsenthebungen.
Das Verfahren lief zu dieser Zeit meist nach dem gleichen Muster ab. Die AKP schickte zunächst eine Delegation von zehn bis fünfzehn Inspekteuren. Die Delegationen hatten den Auftrag herauszufinden, welchen Weg man nutzen könne, um die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abzusetzen. Sie sollten einen Grund wie Bestechlichkeit oder andere Formen von Korruption aufdecken. Als die Delegationen nichts fanden, wurden sie wieder und wieder zu den Rathäusern geschickt. Sie haben praktisch in den Rathäusern kampiert, aber dennoch nichts finden können. Die Delegationen konnten nicht den geringsten Beweis vorlegen.
Zwangsverwaltung gegen Selbstverwaltung
Bei der Ausrufung der demokratischen Selbstverwaltung in Sûr, Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Farqîn (Silvan) und anderen Landkreisen standen die Ko-Bürgermeister*innen an der Seite der Bevölkerung. Es folgte die Zerstörung ganzer Städte durch Polizei und Militär. Die Ko-Bürgermeister*innen wurden per Dekret abgesetzt und inhaftiert. Einige von ihnen wurden später wieder freigelassen, andere blieben in Haft. Erdoğan setzte seine immer wieder klar geäußerte Ambition „Ich will Diyarbakır, ich will Van, ich will Mardin“ mit Gewalt in die Praxis um.
94 Rathäuser besetzt
Es folgte eine Zeit massiver Repression gegen die lokale Selbstverwaltung. Das Regime führte immer neue Gründe an, um DBP-Bürgermeister*innen per Dekret zu entlassen und die Rathäuser, welche die AKP durch Wahlen und Wahlbetrug nicht erringen konnte, mit eigenen Beamten zu besetzen. Am 11. September 2016 wurden in 24 Rathäusern, darunter Sûr, Cizîr, Nisêbîn, Farqîn, Eruh, Silopiya (Silopi), Pirsûs (Suruç) und Dêrik Zwangsverwalter eingesetzt. In all diesen Orten hatte die DBP die Wahlen mit überwältigender Mehrheit gewonnen. Damit waren 2016 über 94 der 106 von der DBP regierten Kommunalverwaltungen unter staatliche Treuhandschaft gestellt worden. Die übrigen wurden in die regionalen Liegenschaftsämter übertragen.
Vorgehen gegen kurdische Sprache
Nach der Besetzung der Stadtverwaltungen mit Regimebeamten erreichte die Assimilations- und Verleugnungspolitik des türkischen Staates einen neuen Höhepunkt. Die Zwangsverwalter betrachteten es als ihre erste Aufgabe, die kurdischen Schilder an den Rathäusern herunterzureißen. Anschließend wurden kurdische Namen von Parks, Straßen und Plätzen in türkische geändert. Namen wie Roboskî, mit dem an die Opfer des türkischen Massakers in Şirnex (Şırnak) erinnert werden sollte, der Name des von Sicherheitskräften erschossenen Anwaltskammervorsitzenden Tahir Elçi, des kurdischen Gelehrten Ehmedê Xanî oder des mit 13 Kugeln extralegal hingerichteten kurdischen Kindes Uğur Kaymaz wurden getilgt. Alle städtischen Frauen- und Kultureinrichtungen wurden geschlossen. 3.000 städtische Beschäftigte wurden entlassen und an ihrer Stelle AKP-nahes Personal eingesetzt. Zuletzt wurden 722 Arbeiter aus Subunternehmen per Dekret entlassen.
Die kurdische Bevölkerung hielt an der Demokratiebewegung fest
Bei den Wahlen am 31. März 2019 trat nicht mehr die DBP als Regionalpartei, sondern ihre Dachpartei HDP zu den Wahlen an. Aufgrund der Erfahrungen mit der Ernennung von Zwangsverwaltern wurden die Kandidatinnen und Kandidaten dieses Mal mit großer Vorsicht aufgestellt. Kandidaten, gegen die bereits politische Ermittlungsverfahren liefen, wurden nach Möglichkeit nicht aufgestellt, um zu verhindern, dass die AKP/MHP-Regierung dies als Vorwand für die Ernennung von Zwangsverwaltern benutzt. Trotz Repression und Wahlbetrug errang die HDP immer noch 65 Kommunalverwaltungen.
Vom Wahlausschuss gestellte Falle
Zehn Tage nach den Wahlen verweigerte der Hohe Wahlausschuss sechs gewählten HDP-Bürgermeister*innen die Anerkennung ihrer Mandate. Begründet wurde die von der AKP beantragte Maßnahme damit, dass die Kandidat*innen zuvor per Dekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Dies betraf den Bezirk Bağlar in Amed, wo die HDP 70 Prozent der Stimmen erreicht hatte, Pazarcîx (Pazarcık) in Qers-Dîxor (Kars-Digor), wo ein HDP-Stimmanteil von 54 Prozent vorlag, Wan-Êrdmed (Van-Edremit) mit ebenfalls 54 Prozent für die HDP, Wan-Tuşba mit 53 Prozent für die HDP, Wan-Ebex (Çaldıran) mit 53 Prozent und Erzîrom-Tatos (Erzurum-Tekman) mit 49 Prozent. An ihrer Stelle rückten keine anderen HDP-Politiker*innen auf, stattdessen wurden die Mandate an die AKP-Kandidaten vergeben, die nur einen Bruchteil der Stimmen erhalten hatten. Auf diese Weise wurde die Zahl der von der HDP gewonnenen Kommunalverwaltungen auf 59 gedrückt.
Neue Ernennung von Zwangsverwaltern
Am 19. August 2019 ernannte die AKP/MHP-Regierung die Gouverneure der Provinzhauptstädte Amed, Wan und Mêrdin (Mardin) zu Zwangsverwaltern und setzte die Bürgermeister*innen ohne konkrete Begründung ab. Damit wurde eine neue Serie von Amtsenthebungen gewählter Bürgermeister*innen eingeleitet. Kurz darauf fiel dem juristischen Beistand der HDP ein Dokument in die Hände, aus dem hervorging, dass der Gouverneur und spätere Zwangsverwalter von Amed, Hasan Basri Güzeloğlu, bereits am 1. April, also einen Tag nach den Wahlen, die Absetzung inzwischen verhafteten Bürgermeisters Adnan Selçuk Mızraklı verlangt hatte.
Widerstand gegen Zwangsverwaltung
Damit sank Zahl der Kommunalverwaltungen unter HDP-Regierung auf 56. Nach der Ernennung der Zwangsverwalter in den drei kurdischen Großstädten gingen die Menschen auf die Straße. Die Polizei antwortete mit massiver Gewalt und schweren Übergriffen. Es kam zu vielen Festnahmen. An den Protesten nahmen Menschen aus der Türkei, Kurdistan und Europa teil. Es fanden Kundgebungen mit offenem Mikrofon statt, auf denen die Menschen ihre Meinung äußern konnten. Mit dem Beginn der Invasion in Rojava am 9. Oktober 2019 fanden die Proteste jedoch ein jähes Ende, als alle demokratischen öffentlichen Veranstaltungen von den Gouverneuren und Zwangsverwaltern verboten wurden.
Dutzende weitere HDP-Bürgermeister abgesetzt
Eine weitere große Absetzungswelle folgte in den Monaten Oktober, November und Dezember 2019. In dieser Zeit wurden die HDP-Bürgermeister*innen von Awîskê (Ikiköprü) in der Provinz Êlih (Batman), Pêr (Akpazar) bei Dersim, Hezro (Hazro), Payas (Kayapınar), Bismîl, Naxciwan (Kocaköy), Pasûr (Kulp), Sûr und Yenişehir in der Provinz Amed, Qereyazî (Karayazı) in der Provinz Erzîrom (Erzurum), Gever (Yüksekova) in der Provinz Colemêrg (Hakkari), Qoser (Kızıltepe), Şemrex (Mazıdağı), Nisêbîn (Nusaybin) und Stewr (Savur) in der Provinz Mêrdin (Mardin), Kop (Bulanık), Lîz (Erentepe) und Gimgim (Varto) in der Provinz Mûş (Muş), Cizîr und Hezex (Idil) in der Provinz Şirnex (Şırnak), Pirsus (Suruç) in der Provinz Riha (Urfa), Elbak (Başkale), Erdîş (Erçiş), Rêya Armûsê (Ipekyolu), Bêgirî (Muradiye), Qerqelî (Özalp) und Mehmûdî (Saray) in der Provinz Wan abgesetzt und an ihrer Stelle Zwangsverwalter ernannt. Die Zahl der weiterhin bestehenden HDP-Rathäuser wurde damit auf 29 reduziert. Aus Sorge ebenfalls abgesetzt zu werden, trat der Bürgermeister von Kaniya Henê (Bekirhan) in der Provinz Êlih, Fırat Karabulut, am 10. Dezember 2019 aus der HDP aus.
Noch zwölf Kommunalverwaltungen unter HDP-Regierung übrig
Am 23. März folgten weitere Absetzungen. Die Bürgermeister*innen der Großstadt Êlih, Norşîn (Güroymak) in der Provinz Bedlîs (Bitlis), Gêl (Eğil), Erxenî (Ergani), Farqîn (Silvan), Licê (Lice) in der Provinz Amed, Xelfelî (Halfeli) in der Provinz Reşqelas (Iğdır) und von Gökçebağ in der Provinz Sêrt (Siirt) wurden abgesetzt. Damit wurde die Zahl der von der HDP regierten Kommunalverwaltungen innerhalb eines Jahres auf 18 gedrückt. Am Tag der kurdischen Sprache, dem 15. Mai, wurden in Sêrt, Reşqelas, Hawêl (Baykan), Misirc (Baykan) und Vartnîs (Altınova) ebenfalls die HDP-Bürgermeister*innen abgesetzt. Übrig bleiben jetzt noch zwölf Kommunen, die von der HDP regiert werden. Die einzige weiterhin von der HDP regierte Provinzhauptstadt ist Qêrs (Kars).