In Nordkurdistan sind fünf weitere von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) regierte Städte unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden. Die Oberbürgermeister der Provinzhauptstädte Sêrt (Siirt) und Reşqelas (Iğdır) und die Bezirksbürgermeister der Landkreise Misirc (Kurtalan), Hawêl (Baykan) und Vartinîs (Altınova) befinden sich seit Freitag wegen Terrorvorwürfen in Polizeigewahrsam. In den okkupierten Rathäusern sitzen inzwischen Verwaltungsbeamte der türkischen Regierung.
Das Innenministerium begründet die Absetzung der HDP-Politiker*innen mit vage formulierten Vorwürfen wie „Mitgliedschaft in einer verbotenen Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“. Konkrete Anklagen gegen die Betroffenen liegen nicht vor, die Ermittlungen gegen sie wurden im vergangenen Jahr eingeleitet. Erst Ende März waren acht Bezirksbürgermeister*innen der HDP abgesetzt und durch illegitime Personen ersetzt worden.
HDP: AKP nutzt Pandemie für eigene Zwecke
Die HDP machte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan für die Festnahmen verantwortlich. „Das Erdoğan-Regime hat einmal mehr seine Feindseligkeit gegenüber dem Willen der kurdischen Bevölkerung gezeigt“, hieß es am Freitag in einer Stellungnahme der außenpolitischen Ko-Sprecher*innen Feleknas Uca und Hişyar Özsoy. Die Regierung von Erdoğans AKP nutze die Corona-Pandemie als Machtinstrument aus, um mit Amtsenthebungen und Festnahmen von Lokalpolitiker*innen und der Einsetzung von Treuhändern den Wähler*innen die politische Repräsentation auf lokaler Ebene zu nehmen und die Demokratie zu untergraben. „Damit wird aber nicht nur die lokale Demokratie geschädigt, sondern auch die ohnehin schon geschwächte soziale und gesundheitliche Infrastruktur zerstört, die dadurch noch anfälliger für die Pandemie wird“, so Uca und Özsoy.
Mithat Sancar: AKP ignoriert Willen des Volkes
Der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, sprach von einem Putsch gegen seine Partei. Die Treuhändermethode sei eine „Kriegsmethode“, die AKP ignoriere den Willen des Volkes. „Erst kürzlich streute die Regierung Erdoğans Gerüchte, dass ein möglicher Staatsstreich in Vorbereitung sei. Wie sich nun herausstellte, ist es die Regierung selbst, die geputscht hat.“ Die Ernennung von Treuhändern in den kurdischen Kommunen habe jedoch keine andere Konsequenz als die Erhöhung der Entschlossenheit, politisch gegen die antidemokratische Politik sowie rechtswidrige Praktiken der türkischen Regierung vorzugehen. „Wir bezweifeln nicht, dass unsere Entschlossenheit der Türkei Frieden und Demokratie bringen wird. Frieden und Demokratie in der Türkei und der Region können jedoch nicht nur von den Kurden und der HDP getragen werden. Deshalb wiederholen wir unseren Appell an alle demokratischen Kräfte und an diejenigen, die in der Türkei in Frieden leben wollen: Lasst uns zusammenstehen, lasst uns gemeinsam unseren Kampf ausbauen“, sagte Sancar.
Mithat Sancar
Nur noch zwölf HDP-Bürgermeister im Amt
Von den 65 kurdischen Kommunen, die bei der Wahl am 31. März 2019 von der HDP gewonnen wurden, werden inzwischen 45 von staatlich ernannten Treuhändern verwaltet. Gegen mehr als zwei Dutzend gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erging Haftbefehl, 21 von ihnen sitzen noch immer im Gefängnis, fünf weitere befinden sich seit dem Vortag in Polizeigewahrsam. In sechs Kommunen konnten die gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die unterlegenen AKP-Kandidaten ins Amt gehievt, die immer wieder durch Raub und Korruption von sich reden machen. Gegen zwei Bürgermeister leitete die HDP selbst Amtsenthebungsverfahren ein. Somit verbleiben insgesamt nur noch zwölf im Amt.