Am 31. März 2019 errang die HDP einen entscheidenden Sieg bei den Kommunalwahlen in Nordkurdistan und gewann in acht Großstädten, 45 Bezirken und Kreisstädten und zwölf Gemeinden. Bereits im Wahlkampf kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an, im Falle eines Wahlsiegs der HDP sämtliche Kommunalverwaltungen zu okkupieren. So praktiziert die türkische Regierung eine Politik, die von der kurdischen Bevölkerung treffend als „Putsch“ bezeichnet wird. Viereinhalb Monate nach den Wahlen begann Erdoğan Schritt für Schritt, seine Drohung wahrzumachen. Zunächst wurden am 19. August 2019 die Oberbürgermeister der kurdischen Großstädte Amed (türk. Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) abgesetzt. Mittlerweile wurden insgesamt 40 ehemals HDP-geführte Rathäuser durch das AKP-Regime unter Zwangsverwaltung gestellt. An Stelle der gewählten Politiker*innen wurden Regimebeamte eingesetzt, welche die Stadtverwaltungen systematisch finanziell zerstören. Gegen Dutzende Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erging Haftbefehl, 25 Bürgermeister*innen sitzen nach wie vor im Gefängnis. Sechs gewählte Bürgermeister*innen konnten nach den Wahlen ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle waren trotz Wahlniederlage die AKP-Kandidaten zu Bürgermeistern ernannt worden.
Wie in vielen anderen usurpierten Kommunalverwaltungen waren auch in Wan direkt nach der Ernennung eines staatlichen Treuhänders Dutzende Mitarbeiter*innen der Stadt entlassen und Hunderte an entlegene Orte versetzt worden. Die Kasse wurde soweit ausgeplündert, dass Angestellte nicht mehr bezahlt werden konnten. Es ist bereits das zweite Mal, dass demokratisch gewählte Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Im Herbst 2016 waren ungefähr hundert kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abgesetzt und inhaftiert worden. Erst bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 zogen wieder gewählte Vertreter in die Rathäuser kurdischer Städte und Gemeinden ein.
Kampf wird fortgesetzt
Wir haben mit dem ehemaligen Ko-Oberbürgermeister von Wan, Mustafa Avcı, gesprochen. Der Politiker sagt: „Wir haben versucht, in den wenigen Monaten im Amt die Zerstörung durch die Zwangsverwaltung in den Jahren 2016 bis 2019 genauestens zu dokumentieren. Vorher hatten wir etwa 4,5 bis fünf Millionen Lira angespart. Wir führten in allen Stadtteilen qualifizierte Volksversammlungen durch und trafen uns mit allen Ortsvorstehern von Wan. Außerdem führten wir Gespräche mit allen Institutionen der Zivilgesellschaft sowie den Gewerkschaften. Der Bedarf aller wurde ermittelt und zentral abgedeckt. Es fanden kurz-, mittel- und langfristige Planungen statt.“
Mit dem Raub der Stadtverwaltungen bestehe nun der dringende Verdacht, dass viel aus der öffentlichen Hand gestohlen wurde, erklärt Avcı. „Es wurde beobachtet, dass es in fast allen zwangsverwalteten Rathäusern zu Unregelmäßigkeiten, Korruption und Erpressung kommt. Die geraubten Stadtverwaltungen werden regelrecht ausgeplündert.“
Das bedeutet, dass die Kommunen auch in der zweiten Phase der Zwangsverwaltung über einen langen Zeitraum großen Schaden erleiden werden, sagt Avcı. „Aber was auch kommen mag, wir werden weiter gegenüber dieser räuberischen Mentalität der Zwangsverwaltung ein Verständnis von sozialer Stadtverwaltung an den Tag legen und an der Seite der Unterdrückten und Arbeiter*innen stehen. Wir mögen vom Staat abgesetzt worden sein, aber wir werden als vom Volk gewählte Vertreter unseren Bereich schützen, unser Wort, das wir bei unserer Wahl gegeben haben, halten und unseren Kampf fortsetzen.“