Ertan: Wan steht de facto unter Kriegsrecht

Wir haben mit der abgesetzten Ko-Bürgermeisterin von Wan, Bedia Özgökçe Ertan, gesprochen. Sie erklärt, dass die Zerstörung der Türkei ein zuvor nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat.

Mehr als sechs Wochen sind vergangen, seit das AKP/MHP-Regime die von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) geführten Rathäuser der Großstädte Wan (Van), Amed (Diyarbakir) und Mêrdîn (Mardin) unter Zwangsverwaltung gestellt und die Oberbürgermeister*innen abgesetzt hat. Der Widerstand gegen den politischen Putsch in den drei kurdischen Metropolen hält wie gewohnt an. Trotz staatlicher Repression ziehen die HDP-Wähler*innen täglich auf die Straße und erklären, solange an ihrem Kampf festzuhalten, bis sie ihre Rathäuser zurückerlangt haben. Kurdinnen und Kurden in den Metropolen der Türkei und europäischen Städten unterstützen die mit Parolen, Protestliedern und Pfeifkonzerten begleiteten Widerstandsaktionen.

Wir hatten die Möglichkeit, im Rahmen der 7. Buchmesse Amed in den Hallen des Messeveranstalters Tüyap mit Bedia Özgökçe Ertan, der demokratisch gewählten Ko-Oberbürgermeisterin von Wan, zu sprechen. Die Politikerin war angereist, um Werke von inhaftierten HDP-Abgeordneten zu signieren. Im Interview mit unserer Agentur äußerte sie sich zur Politik der Zwangsverwaltung und den Auswirkungen und Hürden des seit 46 Tagen anhaltenden Widerstands.

„Sie haben gegen die Überzeugung des Volkes interveniert“

Ertan erklärt zunächst, dass die Machtbasis der AKP durch innen- und außenpolitische Niederlagen zerbrochen ist. Die Regierung habe die Kontrolle über das Land verloren. „Insbesondere mit dem im Sommer 2016 nach dem misslungenen Putschversuch verhängten Ausnahmezustand in der Türkei werden Grundrechte massiv eingeschränkt“, unterstreicht Ertan und betont, dass weiterhin schwere Angriffe auf die Meinungs- und Gedankenfreiheit verübt werden. „Die Völker der Türkei sind Zeugen einer Zerstörung, die ein zuvor nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat“, beschreibt Ertan die Lage in dem Land.

Mit massiver Gewalt versuche die Regierung, das Existenzrecht des kurdischen Volkes und seiner Politik zu unterdrücken, erklärt die HDP-Politikerin. „Bestrebungen, legitime Ansprüche durchzusetzen, insbesondere das Recht auf Leben, werden mit aller Härte zerschlagen. Das, was am 19. August geschah, wurde per Notstandsdekret in Form einer Rechtsverordnung erlassen und tritt nun als Gesetz in Kraft. Es steht jedoch im Gegensatz zur Verfassung und wird dazu missbraucht, dem kurdischen Volk das Wahlrecht zu nehmen. Die Bevölkerung wurde damit ihrem Recht auf Selbstverwaltung, ihres Gewissens und ihrer Lebensweise beraubt“, sagt Ertan.

„Das kurdische Volk akzeptiert diese Unterdrückung nicht“

Doch weder die Wähler*innen der HDP noch die Anhänger*innen anderer Parteien akzeptierten diese Ungerechtigkeit, so die Politikerin. „Beim letzten Mal (2016 wurden im Zuge des Ausnahmezustands 98 von 102 HDP/DBP-Bürgermeistern in kurdischen Städten abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt) hat die Regierung unter Angabe von Scheingründen die türkische Öffentlichkeit teilweise manipulieren können. Doch mittlerweile erkennen alle Kreise der Gesellschaft, was die Machthabenden aus der Türkei gemacht haben und wie sehr sie die Polarisierung anheizen. Das kurdische Volk wird unter keinen Umständen diese Ungerechtigkeit und Unterdrückung akzeptieren. Die Kurden drücken dies auf den Straßen, in ihren Häusern und in all ihren Lebensräumen sehr deutlich aus. Aber gegenwärtig sind alle Methoden, demokratische Grundrechte durchzusetzen, außer Kraft gesetzt. Wir befinden uns in einer Phase, in der alle kritischen Stimmen festgenommen, inhaftiert und sogar gefoltert werden. Dieses Klima herrscht auch in den anderen Regionen des Landes“, sagt Bedia Özgökçe Ertan.

„Trotz der Antipropaganda hat das Volk seine Entscheidung getroffen“

Die abgesetzte Bürgermeisterin kommt auch auf die gesellschaftliche Atmosphäre in Wan zu sprechen, die sich als Reaktion auf die Beschlagnahme der HDP-geführten Kommunen entwickelt hat: „Ich kann sagen, dass die Reaktionen weit größer sind als die, die sich in den Medien widerspiegeln. Es gilt aber festzuhalten, dass die Proteste massiv eingeschränkt und behindert werden. Das führt dazu, dass nicht alle Reaktionen gegen die Zwangsverwaltung sichtbar werden. Die wirkliche Reaktion spielt sich aber ohnehin in den Köpfen und Herzen der Menschen ab und wird bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß zum Vorschein kommen. Was uns angetan wird, ist ja nicht gegen uns persönlich gerichtet.“

Ertan fährt fort: „Was in unserer Person verkörpert wird, ist das Gewissen von Millionen Wählerinnen und Wählern, ihre Zukunft und ihr Wunsch, wie sie regiert werden wollen. Immerhin ist unser Volk am 31. März mit der Maxime an die Urnen gegangen: ‚Wir wollen keinen Zwangsverwalter‘. Die Devise der Bevölkerung lautete: ‚Trotz euren Diffamierungen, Drangsalierungen, Verhaftungen und der Kriminalisierung unserer Abgeordneten und unserer Ko-Vorsitzenden wählen wir erneut diese Menschen‘. Dies ist eine sehr wichtige Botschaft. Deshalb ist das heutige Eingreifen des Staates nicht an uns persönlich gerichtet, sondern zielt genau auf diesen Willen des Volkes ab.“

Die Menschen in Wan stehen an unserer Seite

Zum Ende unseres Gesprächs kommt Ertan noch auf die Repression der türkischen Behörden in Wan zu sprechen. Die Politikerin erinnert daran, dass der nach dem Putschversuch 2016 über Wan erlassene Ausnahmezustand bis heute faktisch anhält. Seit dem 21. November 2016 gilt in der Provinz ein totales Aktivitätsverbot im öffentlichen Raum. „Seit mehr als drei Jahren steht Wan unter einer Dauerblockade. Die Durchführung von politischen oder kulturellen Veranstaltungen ist verboten. Begründet wird die Maßnahme mit vermeintlichen Sicherheitsbedenken des Gouverneurs. Damit steht Wan de facto unter Kriegsrecht.

Diese Verbote gelten jedoch nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Denn gewissene Gruppen, die gefolgt von Staatsbediensteten bestimmte Moscheen verlassen, dürfen demonstrieren – beispielsweise für das Verbot eines Musikfestivals. Aber die Kurden, unsere Partei und andere Kreise, die sich der Suche nach Gerechtigkeit verschrieben haben und ihre Grundrechte einfordern, werden schwerwiegenden Angriffen und Repression ausgesetzt. Wir werden eingekesselt, damit unsere Stimme verstummt. Es soll eine Wahrnehmung geschaffen werden, wonach wir nicht die Partei Hunderttausender Menschen, sondern eine Randgruppe seien. Aber das Volk steht trotz allem stets an unserer Seite.“