„Ohne Aufarbeitung kein nachhaltiger Frieden“
Nach dem zweitägigen Dialog „Der Weg zum Frieden: Erinnerung und Gerechtigkeit“ hat der Menschenrechtsverein IHD am Montag in Amed (tr. Diyarbakır) die offizielle Abschlusserklärung veröffentlicht. Darin fordern Teilnehmende aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, dass der türkische Staat endlich konkrete Schritte für eine politische Lösung der kurdischen Frage unternehmen müsse, darunter die Beendigung von Militäroperationen, rechtliche Reformen und eine Einbindung der Zivilgesellschaft.
Die Erklärung wurde in der IHD-Zweigstelle vom Vorsitzenden der lokalen Sektion, Ercan Yılmaz, verlesen. Zuvor betonte IHD-Vorsitzender Hüseyin Küçükbalaban die Dringlichkeit eines politischen Umdenkens. „In den vergangenen acht Monaten haben einige Akteure konkrete Schritte eingeleitet. Aber der Staat hat bislang nichts Wesentliches beigetragen, das bei der Gesellschaft angekommen ist“, sagte er. Selbst symbolische Gesten wie jüngste Äußerungen des MHP-Chefs Devlet Bahçeli hätten sich bislang nicht in praktische politische Bewegung übersetzt.
Erinnerung, Dialog und Verantwortung
In der Erklärung wird zusammengefasst, dass am ersten Konferenztag die Perspektiven von unmittelbar vom Konflikt betroffenen Menschen im Mittelpunkt standen – darunter Angehörige von Opfern staatlicher Gewalt, gewaltsam Verschwundener sowie von Betroffenen der Ausgangssperren und Zwangsvertreibungen. Besonders hervor hoben die Veranstaltenden die Botschaften der Mütter von Uğur Kaymaz und Eren Bülbül, die – trotz unterschiedlicher politischer Herkunft – zu einer gemeinsamen Friedensforderung aufriefen.
Vorstellung der Abschlusserklärung der Konferenz am Montag in Amed © MA
Zentrales Fazit: „Glaubwürdiger Frieden kann nicht entstehen, wenn das erlebte Unrecht nicht anerkannt, aufgearbeitet und entschädigt wird.“ Trotz langjähriger Missstände überwiege jedoch die Hoffnung – mit klaren Forderungen an Politik, Institutionen und Gesellschaft.
Mängel im bisherigen Prozess
Als strukturelle Hindernisse für einen Friedensprozess identifizierten die Teilnehmenden unter anderem:
Fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit: Die weit verbreitete Straflosigkeit und das Ausbleiben einer offiziellen Wahrheitskommission hemmen gesellschaftliche Aussöhnung.
Fortbestehende Sicherheitsdoktrin: Fortgesetzte Militäreinsätze – insbesondere in Südkurdistan – untergraben den Waffenstillstand und verschärfen die Konfliktdynamik.
Marginalisierung der Zivilgesellschaft: Wichtige gesellschaftliche Akteur:innen mit Fachwissen und Erfahrung werden nicht in Dialogformate einbezogen.
Fehlende Repräsentation von Frauen, Jugendlichen und Minderheiten: Friedensinitiativen seien oft männlich dominiert und zentralistisch geprägt.
Nichtdokumentierte Zeitzeugnisse: Erlebtes Unrecht bleibe ohne systematische Archivierung unsichtbar.
Kriegsrhetorik in Medien und Politik: Eine dialogorientierte Sprache fehle insbesondere im regierungsnahen Diskurs.
Zentrale Empfehlungen der Konferenz
Im Ergebnis formulierten die Teilnehmer:innen einen umfangreichen Katalog konkreter politischer und gesellschaftlicher Maßnahmen:
▪ Gesprächsformate zwischen gespaltenen gesellschaftlichen Gruppen sollen institutionalisiert werden.
▪ Politische Gefangene und Schwerkranke sollen freigelassen, diskriminierende Passagen im Strafrecht reformiert werden.
▪ Von der PKK gefangene Staatsbedienstete sollen freigelassen werden, um Vertrauen aufzubauen.
▪ Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts müssen umgesetzt werden.
▪ Zivilgesellschaftliche Akteur:innen sollen als Gesprächspartner:innen anerkannt und systematisch eingebunden werden.
▪ Wahrheitskommissionen und der Zugang zu staatlichen Archiven sollen ermöglicht, Opferzeugnisse dokumentiert werden.
▪ Rückkehrrechte von Vertriebenen, insbesondere in geräumte Dörfer, müssen garantiert sein.
▪ Per Dekret (KHK) entlassene Beamt:innen sollen rehabilitiert werden.
▪ Der Anteil von Frauen an Friedensverhandlungen soll gesetzlich garantiert werden.
▪ Das Museum im ehemaligen Foltergefängnis Diyarbakır Nr. 5 soll eröffnet, kulturelle Aufarbeitung sichtbar gemacht werden.
▪ Sprachliche und kulturelle Rechte – insbesondere für die kurdische Sprache – müssen verfassungsrechtlich geschützt werden.
▪ Die Zwangsverwaltung demokratisch gewählter Kommunalverwaltungen soll beendet und abgesetzte Bürgermeister:innen wiedereingesetzt werden.
Ausblick: Frieden als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
„Die Beiträge haben gezeigt, dass Frieden nicht allein durch politische Maßnahmen, sondern durch gesamtgesellschaftliches Engagement erreicht werden kann“, erklärte IHD-Vertreter Yılmaz zum Abschluss. Die Konferenz habe gezeigt, dass sich ein pluralistischer, breit abgestützter Dialog über den Konflikt und seine Auflösung entwickeln lässt – wenn Staat, Gesellschaft und politische Akteure endlich Verantwortung übernehmen.