In der kurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakır) hat am Wochenende unter dem Titel „Der Weg zum Frieden: Erinnerung und Gerechtigkeit“ eine zweitägige Konferenz des Menschenrechtsvereins IHD stattgefunden. Ziel der Veranstaltung war es, Stimmen von Betroffenen unterschiedlicher Seiten des jahrzehntelangen türkisch-kurdischen Konflikts zusammenzubringen – darunter Angehörige von getöteten Zivilist:innen, Guerillakämpfer:innen, Soldaten sowie Verschwundenen.
Die Konferenz wurde von den beiden IHD-Vorsitzenden Eren Keskin und Hüseyin Küçükbalaban geleitet. Auch der ehemalige IHD-Vorsitzende Akın Birdal, zivilgesellschaftliche Gruppen, Friedensinitiativen und zahlreiche Aktivist:innen nahmen teil. Die zentrale Botschaft: Frieden ist nur möglich, wenn die Wunden der Vergangenheit gemeinsam benannt, anerkannt und verarbeitet werden.

Mütter: „Wir wollen keine weiteren toten Kinder“
Gleich zu Beginn der Konferenz wurden die bewegenden Botschaften zweier Mütter verlesen, die durch den Krieg in Kurdistan jeweils ihre Söhne verloren haben – auf unterschiedlichen Seiten.
Makbule Kaymaz, Mutter des 2004 in Qoser (Kızıltepe) im Alter von zwölf Jahren von türkischen Polizisten erschossenen Uğur Kaymaz, erklärte: „Ich bin eine kurdische Mutter. Ich habe meinen Sohn im Alter von nur 12 Jahren zusammen mit seinem Vater durch 13 Kugeln verloren. Ich habe meinen Schmerz im Arm ihrer Gräber großgezogen. Seit Jahren trage ich die schwerste Last, die eine Mutter tragen kann.
Aber ich bin heute bei euch, damit dieser Schmerz nicht auch in die Herzen anderer Mütter fällt. Ich bin bei euch, um nach Wegen des Zusammenlebens und des Friedens zu suchen. Wir wollen, dass nirgendwo – weder in Kurdistan noch in irgendeinem anderen Teil der Türkei – weiterhin Kinder getötet werden. Keine Mutter soll mehr solches Leid erfahren, kein Kind soll in einem Grab aufwachsen müssen.
Wir haben unsere Kinder verloren, aber wir wollen unsere Hoffnung nicht verlieren. Wir wollen keine Tränen mehr – wir wollen Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden. Denn Frieden wird uns allen guttun.“

Auch Ayşe Bülbül, Mutter des 2017 bei einem Schusswechsel zwischen der türkischen Armee und der PKK getöteten Jugendlichen Eren Bülbül, rief zum Dialog auf: „Ich unterstütze den Frieden. Mein Kind starb durch 17 Kugeln. Seitdem ist kein Feiertag mehr ein Feiertag für mich. Aber ich möchte nicht, dass andere Mütter Ähnliches erleben. Deshalb kann ich nicht schweigen. Wenn ich mich nicht für Frieden einsetze – was dann?“
Keskin: Sprache des Friedens muss politisch ernst genommen werden
Die IHD-Vorsitzende Eren Keskin erinnerte daran, dass die Organisation seit ihrer Gründung 1986 auf Dialog, Menschenrechte und Gewaltfreiheit setzt: „Wir sind vielleicht die einzige Organisation, die den Krieg in all seinen Phasen dokumentiert hat. Jetzt, wo selbst staatliche Akteure von ‚Frieden‘ sprechen, ist es unsere Verantwortung, diesen Raum zu füllen.“
Keskin betonte, dass ein dauerhafter Frieden nur entstehen könne, wenn beide Seiten des Konflikts gehört und die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen in den Lösungsprozess eingebunden würden. „Wir wollten, dass diejenigen sprechen, die am meisten betroffen sind – nicht nur als Opfer, sondern als Akteur:innen einer neuen Verständigung.“

Küçükbalaban: Die Opfer müssen gesehen werden
Der Ko-Vorsitzende Hüseyin Küçükbalaban präsentierte zentrale Daten zur Konfliktgeschichte und erinnerte an die vielen zivilen Opfer, deren Leid nie offiziell anerkannt wurde. Zwischen 1991 und 2024 dokumentierte der IHD demnach:
▪ 36.400 Tote, darunter rund 9.500 Zivilist:innen,
▪ 3.052 politische Morde sogenannter unbekannter Täter
▪ 3.356 extralegale Hinrichtungen
▪ 280 Massengräber mit über 4.000 Opfern, davon 31 geöffnet
▪ über 2.500 zwangsgeräumte Dörfer
„Diese Zahlen stehen für menschliches Leid – und sie verpflichten uns, den Kreislauf zu durchbrechen“, so Küçükbalaban.
„Der Schmerz hat uns gespalten – aber er kann auch verbinden“
In einem emotionalen Beitrag betonte die Friedensaktivistin Vivet Alevi, dass der langjährige Konflikt auch das gesellschaftliche Miteinander zerrissen habe. „Die größte Wunde ist, dass wir einander nicht mehr zuhören. Wir müssen Räume schaffen, in denen selbst Menschen mit gegensätzlichen Erfahrungen einander ihre Geschichte erzählen können – nur so kann das Feindbild weichen.“
Alevi forderte kollektive Trauerarbeit und erinnerungspolitische Maßnahmen: „Wenn wir nicht trauern, wird uns die Vergangenheit verfolgen. Erinnern, Zuhören, Anerkennen sind Bausteine eines echten Friedens.“
Weißes Tuch der Mütter als Zeichen des Friedens
Zum Abschluss des ersten Konferenztages überreichten Mitglieder des Rates der kurdischen Friedensmütter weiße Tücher an alle Teilnehmenden – ein Symbol für ihre jahrelange Forderung nach einem Ende der Gewalt und des Krieges. Mit herzlichen Umarmungen forderten sie: „Frieden wird uns allen guttun.“

Zivilgesellschaft berät über nächste Schritte
Am zweiten Konferenztag stand die Frage im Fokus, welche Rolle die Zivilgesellschaft in einem Friedensprozess zwischen kurdischer Bewegung und türkischem Staat einnehmen kann. Vertreter:innen zahlreicher NGOs diskutierten über Handlungsperspektiven und Herausforderungen, um den Friedensdiskurs in der Türkei zu stärken und zu verbreitern. Die Tagung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
IHD: Austausch war lange überfällig
Der IHD zeigte sich zufrieden mit der Resonanz: „Dieser Austausch war lange überfällig. Wir danken allen, die ihre Geschichten geteilt haben, für ihren Mut. Und wir hoffen, dass dies ein Beitrag ist auf dem Weg zu einem echten, gerechten Frieden,“ erklärte der Menschenrechtsverein zum Abschluss. Eine offizielle Dokumentation der Beiträge soll in Kürze veröffentlicht werden. Ziel sei es, daraus konkrete Empfehlungen für Politik und Gesellschaft mit dem langfristigen Ziel abzuleiten, dass Erinnerung, Gerechtigkeit und Dialog die Grundlage eines neuen Miteinanders bilden.
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