Seit mittlerweile 614 Wochen kommen Aktivistinnen und Aktivisten der Gefängniskommission der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD (İnsan Hakları Derneği) jeden Samstag in der Bosporus-Metropole zusammen, um auf einer „F-Sitzung“, die ihren Namen in Anlehnung an das türkische Isolationshaftsystem Typ F erhielt, auf die Situation von kranken Gefangenen aufmerksam zu machen. In dieser Woche galt das Augenmerk dem politischen Gefangenen Ergin Aktaş, dessen sofortige Freilassung der IHD fordert. Der 34-Jährige verlor im Jahr 2011 beide Hände, als während einer Demonstration in der nordkurdischen Provinz Agirî (tr. Ağrı) eine Bombe explodierte. Er wurde verhaftet und wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe plus weiteren 28 Jahren verurteilt. Die türkische Justiz wirft ihm vor, für die Explosion verantwortlich zu sein. Einen Nachweis dafür gibt es bis heute nicht.
ATK sprach sich wiederholt für Entlassung aus
Sechs Mal hat das Institut für Gerichtsmedizin (ATK) seit 2013 inzwischen bescheinigt, dass Ergin Aktaş aufgrund seiner körperlichen und gesundheitlichen Verfassung nicht länger in Haft verbleiben kann. Mehrmals startete seine Rechtsvertretung daraufhin Versuche, die Haftentlassung des Kurden zu erwirken. Doch jedes Mal wurden die Anträge von den Vollzugsbehörden mit Verweis auf einen alten Polizeibericht abgelehnt. Die Begründung: von Ergin Aktaş gehe eine „große Gefahr für die Gesellschaft und die Sicherheit des Landes” aus, eine Entlassung könne daher nicht erfolgen. Neben dem Gliedmaßenverlust leidet Aktaş auch an einer Reihe anderer gesundheitlicher Beschwerden, darunter der nicht heilbaren Lungenkrankheit COPD und stark entzündlichen Hautpilzerkrankungen. Laut dem IHD ist er nicht in der Lage, sich in Haft selbst zu versorgen.
Ergin Aktaş (Datum der Aufnahme unbekannt)
Aktaş wird immer wieder in verschiedene Gefängnisse zwangsverlegt, aktuell ist er wieder in einer Dreierzelle im Istanbuler R-Typ-Gefängnis Metris inhaftiert. Es handelt sich um eine geschlossene Vollzugsanstalt für Frauen, Männer und Kinder mit körperlicher oder seelischer Behinderung. Seine beiden Zellengenossen sind Serdal Yıldırım (30), der aufgrund eines Unfalls in Qoser (Kızıltepe) seit dreizehn Jahren im Rollstuhl sitzt, und der 36-jährige Abdullah Turan, der vom Hals abwärts gelähmt ist, seit er während eines Hungerstreiks Ende 2018 in einem Gefängnis in Trabzon kopfüber vom Hochbett sprang, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Inhaftiert wurde Turan auf Grundlage des türkischen Antiterrorgesetzes: er hatte sich eine Zeitlang in Nordsyrien am Kampf gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat” (IS) beteiligt.
Wie im Fall von Ergin Aktaş wird auch seinen beiden Zellengenossen die Haftentlassung mit der Begründung verweigert, sie stellten eine Gefahr für die Sicherheit der Türkei dar. Bei der IHD-Aktivistin Meryem Bars verursacht diese vermeintliche Annahme nur Kopfschütteln. „Im Grunde spiegelt sich in solchen Ablehnungsbegründungen der menschenverachtende Umgang dieses Staates und seiner Regierung mit politischen Gefangenen wider.“ Laut Bars befinden sich derzeit weit mehr als 1.600 kranke oder beeinträchtige Personen in der Türkei in Haft, rund ein Drittel leidet sogar an schwerwiegenden Erkrankungen. In etwa 400 Fällen liegt eine Haftunfähigkeitsbestätigung der Gerichtmedizin vor, eine Entlassung aus dem Gefängnis erfolgt trotzdem nicht. „Die Gefangenen werden praktisch dem Tod überlassen”, sagt Bars. Statt auf eine vernünftige und menschengerechte Lösung setze türkische Justiz auf Kompromisslosigkeit und usurpiere grundlegende Rechte.
Unter den Beteiligten der F-Sitzung waren auch Mitglieder der Istanbuler Initiative der Samstagsmütter, der DEM-Politiker Musa Piroğlu, der Sprecher der 78er-Initiative Celalettin Can, der erst selbst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, und Ergin Aktaşs Rechtsanwältin Gülizar Tuncer. Sie berichtete vom Stand des juristischen Kampfes für die Freilassung ihres Mandanten, der aktuell in Straßburg ausgetragen wird. Im Februar 2020 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Beschwerde von Aktaş gegen seine fortgesetzte Haft abgewiesen. Tuncer hatte ins Feld geführt, dass mit der Aufrechterhaltung der Inhaftierung des politischen Gefangenen der Tatbestand der Folter sowie erniedrigende und unmenschliche Behandlung gegeben seien. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht und entschied zugunsten der türkischen Regierung. Aktaşs Verbleib im Knast sei gerechtfertigt, weil Ankara sich vor ihm fürchte.
Beschwerde gegen EGMR-Urteil
Tuncer bezeichnete das Urteil des EGMR als beschämend. „Meinem Mandanten fehlen beide Hände. Einer seiner Mitgefangenen ist querschnittsgelähmt, der andere hat im unteren Rücken eine Platte und kann sich nur im Rollstuhl bewegen. Der Alltag in ihrer Zelle gestaltet sich unter anderem so, dass Ergin die Kleidung aller drei mit seinen Füßen wäscht und die beiden anderen Gefangenen sie mit ihren Händen auswringen. Auch in allen anderen Lebenssituationen helfen sie sich auf diese Weise.“ Sie habe Berufung gegen die Entscheidung des EGMR eingelegt, sagte Tuncer. Der Fall sei weiterhin an der Großen Kammer anhängig.