Eine kleine Geschichte der Kurden: Der Fall Civan Boltan

Civan Boltans Vita liest sich wie eine, die ein Leben unter dem Aspekt des Staatsterrors skizziert: steinwerfender Kinderterrorist, Guerillakämpfer, Kriegsgefangener, Lebenslänglicher. Die Hoffnung auf Freiheit lässt er sich dennoch nicht nehmen.

Civan Boltans Biografie liest sich wie ein Abbild der Geschichte der Kurdinnen und Kurden in der Zange des türkischen Terrorstaats. Als er 1991 geboren wurde, saß sein Vater, der Journalist Hakki Boltan, im Gefängnis. Die Kindheit war geprägt von Entbehrungen und vielen Herausforderungen, so lernten Vater und Sohn sich bei den seltenen Gefängnisbesuchen kennen. 2008 – Hakki Boltan war seit zwei Jahren wieder frei – landete Civan Boltan selbst hinter Gittern. Er war noch keine 17, als er im Oktober jenes Jahres verhaftet wurde. Man warf ihm vor, Polizisten bei einem Protest gegen den Besuch des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Amed mit Steinen beworfen zu haben.

Der damalige Besuch von Erdogan hatte unter dem Eindruck der Newroz-Feierlichkeiten im März 2008 gestanden. Bei blutigen Übergriffen in Colemêrg und Wan waren vier Menschen von Sicherheitskräften getötet worden, zahlreiche weitere wurden mit Knüppeln, Schüssen und Tränengas zum Teil schwer verletzt. Als der Ministerpräsident einige Monate nach den „Vorfällen“ in Amed auftauchte, blieben die Geschäfte geschlossen. Tausende Menschen skandierten stattdessen auf der Straße „Mörder Erdogan“ und „Die Gefallenen sind unsterblich“, forderten die Bestrafung der Verantwortlichen für die Tötung von Demonstrierenden ein.

Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten: unter etlichen Menschen, die noch am selben Tag festgenommen wurden, waren auch dutzende „kleine Terroristen“, wie die türkische Presse vermeintliche Steinewerfer unter 18 mit kurdischem Hintergrund nannte. Sechs von ihnen im Alter zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren wurden auf Grundlage der damaligen Antiterrorgesetzgebung (TMK) inhaftiert, Civan Boltan war einer von ihnen. Nach etwas mehr als fünf Monaten im Gefängnis wurde der Haftbefehl aufgehoben. Das Verfahren gegen ihn vor einem Sondergericht für Jugendstrafrecht war aber weiter anhängig, gefordert wurden 23 Jahre Haft.

In den Zellen wächst die Wut

Nachdem Civan Boltan entlassen worden war, fing er an für kurdische Medien zu arbeiten. Sein Vater hatte ihm vorgemacht, ohne sich einschüchtern zu lassen im Sinne der „freien Presse“ nach der Wahrheit zu suchen und dabei seine kurdische Identität in den Vordergrund zu stellen – obschon dies 15 Jahre des Lebens von Hakki Boltan gekostet hatten. Bald schon gesellte sich ein Weggefährte zu Civan Boltan, den das gleiche Schicksal ereilt hatte: Mazlum Erenci, der ebenfalls 2008 als 15-Jähriger verhaftet worden war, weil er Polizisten auf einer Demonstration gegen die staatlich verordnete Haarrasur Abdullah Öcalans mit Steinen beworfen haben soll.

Seine Schulausbildung hatte Civan Boltan nach dem Gefängnisaufenthalt nicht abschließen können, weil er als Steinewerfer aus der Grüne-Karte-Regelung, die bedürftigen Menschen den Zugang zu kostenloser medizinischer Behandlung in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen eröffnete, gefallen war. Am 18. März 2010 erschien in der Zeitung Taraf ein Interview mit ihm. Der Titel „Die Züchtigung ist missglückt, wir sind noch wütender“ ließ erahnen, dass die „kleinen Terroristen“ in den türkischen Jugendvollzugsanstalten einem Konzept der „schwarzen Pädagogik“, also unmenschlicher Quälerei unterworfen waren.

„Wir waren zu 31 Kindern und Jugendlichen in einer Gemeinschaftszelle. Wir wurden gefoltert und zur Spitzeltätigkeit gedrängt. Bei mir ist die Züchtigung missglückt, stattdessen bin ich heute noch wütender. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie uns für so lange Zeit hinter Schloss und Riegel bringen wollen. Im Westen gibt es so etwas nicht, warum im Osten? Weil wir Kurden sind? Diese Ausgrenzung verweigert mir sogar den Abschluss der Schule.“

Das Interview in der Taraf sorgte für viel Aufsehen. Civan Boltan galt ab dem Tag des Erscheinens als „Gesicht der minderjährigen TMK-Opfer“, und als solcher brannte er sich in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft ein. Das türkische Antiterrorgesetz aus dem Jahr 2006 stufte minderjährige Steinewerfer als „Terroristen“ ein, die ebenso hart bestraft wurden wie Erwachsene – oftmals von Sondergerichten für schwere Straftaten für Erwachsene – Gerichte, die zuständig waren für Verfahren wegen organisierter Kriminalität, Terrorismus und Staatssicherheit. In der Zeit zwischen dem Inkrafttreten des Gesetzes und einer Änderung zur Beendigung der Strafverfolgung von „minderjährigen Terroristen“ allein wegen der Teilnahme an Demonstrationen im Jahr 2010 waren rund 4.000 Kinder und Jugendliche in Polizeihaft genommen worden, mindestens ein Viertel wurde zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Doch die Regierung von Erdogan ließ sich Zeit mit der praktischen Umsetzung des Vorhabens, die unfairen Gerichtsverfahren gegen Kinder zu beenden und bereits verurteilte zu entlassen. So waren allein bis Juli 2011 mindestens 800 weitere Minderjährige nach der Antiterrorgesetzgebung verfolgt worden, weil sie an Protesten, die von der Regierung als Unterstützung des Terrorismus betrachtet wurden, teilgenommen hätten. Die Beweise gegen sie klangen fast immer gleich: „Ihre Hände rochen zum Zeitpunkt ihrer Festnahme nach Steinen.“

Hakki Boltan befindet sich aufgrund seiner Arbeit als Journalist nach wie vor im Visier des Staates: Erst im Juni wurde er unter Terrorvorwürfen zu einer weiteren Gefängnisstrafe verurteilt.

Die Zeit bei Azadiya Welat

Civan Boltan und Mazlum Erenci arbeiteten zusammen für Azadiya Welat (Die Freiheit der Heimat), die einzige kurdischsprachige Tageszeitung, die je in der Türkei erschienen ist. Der jüngere von beiden, der 1992 geborene Erenci, hatte trotz seines jugendlichen Alters einen äußerst ausgeprägten Sinn für Ästhetik und das passende Fingerspitzengefühl für Fotografie. Er war erst 17, als sein Name unter den besten Fotokorrespondenten in Nordkurdistan gelistet wurde. Doch aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein bedeutete nicht, der staatlichen Repression zu entkommen. Ende 2010, er war gerade erwachsen geworden, fasste Mazlum Erenci den Entschluss, sich dem Leben unter staatlicher Kontrolle zu entziehen und in die Berge zu gehen. Am 29. Juni 2011 starb er als Guerillakämpfer Yılmaz Piling bei Gefechten mit türkischen Operationseinheiten in Dersim.

Der Weg in die Berge

Der Verlust des Weggefährten prägte Civan Boltan. Kaum war die Nachricht vom Tod Mazlum Erencis bekannt geworden, zog es auch ihn in die freien Berge. Er war 20 Jahre alt und kämpfte gerade in Çewlîg, im Gebirge von Bongilan, als er am 24. April 2012 verletzt in Gefangenschaft geriet. Die Auseinandersetzungen hatten drei Tage gedauert und waren heftig: Die türkische Armee führte im Grunde einen Kleinkrieg gegen die Şerafeddîn-Berge – den Rückzugsraum der Guerilla – die seinerzeit das Medien-Etikett „Terrorgebirge“ erhalten hatten.

Die vierköpfige Guerillaeinheit verteidigte sich bis zur letzten Kugel. Als Civan Boltans Munition ausging, zerbrach er seine Waffe und schleuderte sie den Abhang hinunter. Anschließend versuchte er, sich mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen. Dabei wurde sein rechter Arm zerfetzt, außerdem verlor er die Sehfähigkeit auf dem linken Auge. Rund siebzig Schrapnelle durchbohrten seinen Körper, das größte steckt in seinem Schädel. Die Soldaten, die nach dem Abklingen der Schussgeräusche das Gelände durchsuchten, hielten Civan Boltan für tot, als sie ihn entdeckten. Sie packten den Körper in einen Leichensack und brachten ihn in die Gerichtsmedizin des staatlichen Krankenhauses in Çewlîg. Als das Klinikpersonal merkte, dass Civan Boltan noch lebte, kamen die Soldaten zurück. Massive Schläge ins Gesicht führten zu schweren Verletzungen auf dem verbliebenen Auge, von dem heute nur noch 30 Prozent intakt sind. Sein gesunder Arm wurde an mehreren Stellen gebrochen.

Fünf Tage später – die dringend benötigte medizinische Versorgung hatte gerade erst angefangen, wurde er an ein Gericht in Amed überstellt. Auf dem Weg dorthin versuchten Sicherheitskräfte mehrmals, Civan Boltan verschwinden zu lassen – offenbar für eine extralegale Hinrichtung. Nur dank der Intervention des damaligen Parlamentsabgeordneten Idris Baluken konnte der Plan der Soldaten und Polizisten vereitelt werden. In Amed angekommen, schickte ein diensthabender Richter Civan Boltan in das örtliche Hochsicherheitsgefängnis Typ D. Beim folgenden Prozess wurde er zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe plus weiteren 95 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Die Anklage stützte sich auf die Antiterrorgesetzgebung und Artikel 302, der schwerstwiegende des türkischen Gesetzbuches, der das Zerstören der Einheit und Integrität des Staates regelt.

EGMR: Keine Aussicht auf Entlassung verstößt gegen Folterverbot

Aussichten auf eine bedingte Entlassung für Civan Boltan, der aktuell in einem Gefängnis in der Provinz Bolu im Nordwesten der Türkei einsitzt, gibt es nach gültiger Rechtsprechung nicht: Personen, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit verschärftem Vollzug wegen Straftaten verurteilt wurden, die sie nach Auffassung des Gerichts innerhalb einer Organisation gegen die „Sicherheit des Staates“ begangen haben, verbleiben bis zum physischen Tod in Haft. Laut der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verstößt aber die Weigerung, „Lebenslänglichen“ zumindest das Recht auf Hoffnung einzuräumen, gegen das in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) statuierte Folterverbot. 2016 war Boltan vor den EGMR gezogen, weil ihm mit der Haft ohne Aussicht auf eine Entlassung ein „dauerhaft hoffnungsloser Zustand“ von der türkischen Justiz auferlegt worden sei. Die EMRK verbietet es nicht grundsätzlich, einen erwachsenen „Straftäter“ zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen, vorausgesetzt, sie ist nicht eindeutig unverhältnismäßig. Lebenslänglich kann aber dann gegen das Folterverbot verstoßen, wenn die Strafe nicht reduzierbar ist.

Endlich Klartext in Richtung Ankara?

Das Straßburger Gericht gab der Klage von Civan Boltan in seinem Urteil (33056/16) vom 12. Februar 2019 teilweise statt und wies die Regierung in Ankara an, einen Kontrollmechanismus einzuführen, durch den geprüft wird, ob (noch) legitime Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft bestehen. Eine gleichlautende Anordnung hatten zuvor bereits die politischen Gefangenen Hayati Kaytan, Emin Gurban und Abdullah Öcalan, der wohl berühmteste Gefangene der Türkei, vor dem EGMR erwirkt. Ankara weigert sich bis heute, diese Urteile umzusetzen und die nationale Rechtsprechung anzupassen. Insofern wurde auch nicht der von Straßburg geforderte Kontrollmechanismus geschaffen. Diese Tatsache veranlasste das Ministerkomitee des Europarats vergangene Woche, endlich Klartext in Richtung Ankara zu sprechen. Bis September kommenden Jahres hat die Regierung demnach Zeit, erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um den derzeitigen Rechtsrahmen in Einklang mit den vom EGMR festgelegten Standards zu bringen.

Hakki Boltan: Civans Hingabe und Liebe zum Leben gibt uns Kraft

Auch wenn Civan Boltan ohne die Hilfe seiner Mitgefangenen nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Er lernte, einarmig die Tembûr zu spielen, eine in der Regel über sieben Saiten verfügende Langhalslaute. Obwohl ihn ein Bagatelltrauma am Kopf aufgrund des Schrapnells in Lebensgefahr bringen könnte, ließ er es sich nicht nehmen, auch noch die Geige zu erlernen. „Es ist diese Hingabe und Liebe zum Leben, die uns Kraft und Moral gibt“, sagt Civans Vater Hakki Boltan. Daran halte der Sohn auch trotz zunehmender Unterdrückung, Entrechtung und Misshandlung in türkischen Gefängnissen fest. Das sei bewundernswert. Seit Mitte November führt Hakki Boltan zusammen mit den Angehörigen anderer politischer Gefangener eine „Gerechtigkeitswache“ in den Räumlichkeiten der Anwaltskammer von Amed durch. Das Ziel der Initiative ist es, einen Aufschrei innerhalb der Öffentlichkeit zu bewirken und die gesamte Zivilgesellschaft zum Handeln für die politischen Gefangenen zu bewegen – auch im Westen des Landes.

Der Ruf nach Freiheit muss das ganze Land erfüllen

„Wer uns unterstützt hilft im Grunde gleichzeitig sich selbst. Denn alle Menschen brauchen Gerechtigkeit. Ignorieren wir Unrecht, wird uns selbst Gerechtigkeit nicht zuteil“, meint Boltan. Schweigen werde sich auch nicht als unschuldige Geste entpuppen können. Denn im Kontext der Zustände in den Gefängnissen habe Schweigen eine Zweckwirkung: „Es beinhaltet Bedenken oder Eigeninteresse. Dies gilt ebenso für internationale Institutionen und Mechanismen, die sich angesichts der Lage hinter den Gefängnismauern dieses Landes in Schweigen hüllen. Diese Stille hat etwas Sündhaftes. Es ist wichtig, die Stimmen zu erheben für Gerechtigkeit und ein freies Leben. Das ist es, was wir hier heute machen. Der Ruf nach Freiheit muss das ganze Land erfüllen.“