„Die kranken Gefangenen in der Türkei werden dem sicheren Tod ausgeliefert. Die Gefängnisse sind Folterzentren und Orte, wo die Insassen schleichend sterben sollen. Das ist die Realität der Türkei.“ Mit diesen Worten kommentiert die Rechtsanwältin Gülizar Tuncer die Lage für die fast 1400 kranken Gefangenen in türkischen Strafvollzugsanstalten, die trotz „Corona-Amnestie“ nicht entlassen werden. Insbesondere die Situation ihres Mandanten Ergin Aktaş bereitet der Juristin große Sorgen. Aktaş verlor im Jahr 2011 beide Hände, als während einer Demonstration in der nordkurdischen Provinz Agirî (Ağrı) eine Bombe explodierte. Er wurde verhaftet und wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe plus weiteren 28 Jahren verurteilt. Die türkische Justiz wirft ihm vor, für die Explosion verantwortlich zu sein. Einen Beweis dafür gibt es bis heute nicht.
Aktuell ist Aktaş in einer Dreierzelle im Istanbuler R-Typ-Gefängnis Metris inhaftiert. Es handelt sich um eine geschlossene Vollzugsanstalt für Frauen, Männer und Kinder mit körperlicher oder seelischer Behinderung. Bei seinen Zellengenossen handelt es sich um Abdullah Turan, der vom Hals abwärts gelähmt ist, und Serdal Yıldırım, der querschnittsgelähmt ist.
„Der Alltag in der Zelle gestaltet sich so, dass Ergin die Kleidung aller drei mit seinen Füßen wäscht. Seine beiden Mitgefangenen wringen sie mit ihren Händen aus.“ Gülizar Tuncer
Das rechtsmedizinische Institut von Istanbul hat Aktaş, der neben einer Reihe von schwerwiegenden Krankheiten wie Tuberkulose auch an der Atemwegserkrankung COPD leidet, bisher fünfmal bescheinigt, dass er nicht in Haft verbleiben kann. Mehrmals startete sein Verteidigerteam daraufhin Versuche, eine Haftentlassung zu erwirken. Jedes Mal wurde die Entlassung des politischen Gefangenen als „gefährlich“ eingestuft und entsprechende Anträge wurden mit Verweis auf Sanktionen abgelehnt. Gülizar Tuncer hatte dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt. Sie führte ins Feld, dass mit der Aufrechterhaltung der Inhaftierung ihres Mandanten der Tatbestand der Folter sowie erniedrigende und unmenschliche Behandlung gegeben sei. Der EGMR folgte dieser Argumentation nicht. Stattdessen folgten die Straßburger Richter der Rechtfertigung der türkischen Regierung, die durch die Freilassung Aktaşs das Land in Gefahr sieht. Tuncer hatte das Urteil eine „Schande für Europa“ genannt. Die Entscheidung sei ohne Beachtung der Menschenrechte und des Rechts auf Leben gefallen.
„Ergin Aktaş und seine Mitinsassen müssten regelmäßig in ein Krankenhaus, aber auch ihr Recht auf eine gesundheitliche Behandlung wird ihnen verwehrt. Offiziell wegen der Corona-Krise“, sagt Tuncer. Weil sie schon länger nicht ins Krankenhaus gebracht wurden, hat sich ihre Situation weiter verschlechtert. Die Rechtsanwältin erinnert an den Fall von Sabri Kaya. Lange Jahre kämpften Angehörige um die Freilassung des politischen Gefangenen. 2010 war der damals 47 Jahre alte Familienvater wegen Terrorvorwürfen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Haftbedingungen im Gefängnis beeinträchtigten ihn gesundheitlich massiv. Viele seiner Krankheiten traten im Zusammenhang mit seiner Haft auf. Am 25. März erlitt der schwer herzkranke Sabri Kaya Hirnblutungen und einen Herzinfarkt. Drei Mal war er in Folge dessen auf die Intensivstation eingeliefert worden, aber immer wieder wegen seines „guten Zustands“ zurück ins Gefängnis gebracht. Trotz offensichtlicher Haftunfähigkeit wurde die Entscheidung über seine Entlassung immer wieder verzögert. Am 22. Mai verstarb Sabri Kaya im Universitätsklinikum von Çukurova, an dem Tag, an dem die Staatsanwaltschaft endlich seine Freilassung beschieden hatte.
„Das Schicksal von Sabri Kaya wirft ein grelles Schlaglicht auf den Zustand in den Gefängnissen“, sagt Gülizar Tuncer. Und lasse erahnen, dass Ergin Aktaş und seine Zellengenossen noch schlechtere Tage bevorstehen.