Mordakte Cemil Kırbayır wegen Verjährung geschlossen
Die Mordakte im Fall von Cemil Kırbayır, der während des Militärputsches 1980 von türkischen Sicherheitskräften in Haft zu Tode gefoltert wurde, ist wegen Verjährung geschlossen worden.
Die Mordakte im Fall von Cemil Kırbayır, der während des Militärputsches 1980 von türkischen Sicherheitskräften in Haft zu Tode gefoltert wurde, ist wegen Verjährung geschlossen worden.
Die Mordakte Cemil Kırbayır ist wegen Verjährung geschlossen worden. Der Kassationshof in Ankara hat diese Woche entschieden, das Wiederaufnahmeurteil in dem Fall „zugunsten des Gesetzes” aufzuheben. Menschenrechtsorganisationen sind empört. Der Ko-Vorsitzende des IHD Öztürk Türkdoğan bezeichnete die Entscheidung als „traurigen Höhepunkt in der Straflosigkeit des Verschwindenlassens und staatlicher Morde“.
Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land beim Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte - während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.
Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist.
Cemil Kırbayırs Mutter Berfo Ana
Behauptete FLucht wird widerlegt
Cemil Kırbayır ist eines der Opfer des Verschwindenlassens. Er wurde am 13. September 1980, nur einen Tag nach dem Putsch, in seinem Dorf in der Stadt Erdêxan (tr. Ardahan) bei Qers (Kars) festgenommen. Am 8. Oktober desselben Jahres wurde er in der Bildungseinrichtung Dede Korkut, die vom Militär beschlagnahmt worden war und zum damaligen Zeitpunkt als Verhörzentrum benutzt wurde, zu Tode gefoltert. Seinem Bruder Mikail Kırbayır gelang es, durch Zeugen die Namen der Folterer ausfindig zu machen: Kemal Kartal, Mehmet Haytan, Semih Güney, Kureyşin Tepedereli und eine weitere Person namens Ahmet, der Köse (etwa: der Bartlose) genannt wurde. Die Behörden wiesen die Anschuldigungen zurück und ließen verlautbaren, Cemil Kırbayır sei aus der Haft geflohen und nicht auffindbar. Eine strafrechtliche Verfolgung zur Aufklärung des Schicksals des zum Zeitpunkt seines Todes 24-Jährigen erfolgte damit nicht.
Untersuchungskommission: Tod durch Folter
2011 stellte die parlamentarische Untersuchungskommission den Tod von Cemil Kırbayır durch Folter fest. Daraufhin wurde dessen Mutter Berfo Kırbayır von Recep Tayyip Erdoğan, der damals noch Ministerpräsident war, in den Dolmabahçe-Palast eingeladen. Kırbayır, die sich als Berfo Ana ins Gedächtnis der Gesellschaften in der Türkei eingebrannt hat, war über Jahrzehnte Teil der Initiative der Samstagsmütter, die seit 1995 Woche für Woche in Istanbul analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” in Mahnwachen mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern. Insgesamt 33 Jahre kämpfte Berfo Ana darum, die Knochen ihres Sohnes zu bekommen. Am 21. Februar 2013 verstarb sie im Alter von 105 Jahren, ohne dass ihr letzter Wille, solange nicht beerdigt zu werden, bis die sterblichen Überreste ihres Sohnes aufgefunden sind; in Erfüllung ging. Erdoğan hatte ihr zwei Jahre zuvor „versprochen“, den Fall untersuchen und die Verantwortlichen des Mordes zur Rechenschaft ziehen zu lassen.
Gericht orientiert sich an offizieller Theorie
2010 waren in der Türkei einige Gesetzesänderungen vorgenommen worden, die den Weg freimachten für die bis dahin auf 20 Jahre begrenzte Verfolgung von Sicherheitskräften und Beamt:innen wegen Mord, Verschwindenlassen und Folter. Aufgrund alter Gesetze, die die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen vor allem in den 80er und 90er Jahren einschränkten, konnten verantwortliche Beamt:innen in tausenden Fällen nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Trotz der Verfassungsänderung verjährt der Anspruch der Opfer auf Gerechtigkeit weiterhin. Im Fall von Cemil Kırbayır orientierte sich der Kassationshof, eines der obersten Gerichte der Türkei, bei seiner Entscheidung an der Version staatlicher Stellen, wonach der Kurde aus dem Gefängnis geflohen sei. Das im Jahr 2014 gefällte Urteil für das Wiederaufnahmeverfahren sei wirkungslos, weil die Verjährung in dem Fall bereits 2001 eingetroffen sei. Somit sei dieser Rechtsakt zugunsten des Gesetzes aufzuheben.