Bereits einen guten Monat nach seiner Ernennung erwecken Thomas Barrack und sein Team den Eindruck, die Interessen der Türkei in den Vordergrund zu stellen und dabei die Realitäten, mit denen die lokalen Gemeinschaften in der Region konfrontiert sind, zu ignorieren.
Berichten zufolge soll Thomas Barrack, der Sonderbeauftragte der Vereinigten Staaten für Syrien, sich voraussichtlich mit den Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) treffen wird, um die Beziehungen zu Damaskus zu besprechen. Die Trump-Regierung scheint entschlossen zu sein, Syrien in irgendeiner Form unter ihren Einfluss zu bringen. Und man kann nicht sagen, dass Ahmed al-Scharaa (alias Abu Muhammad al-Dschaulani) davon beunruhigt ist. Sein Treffen mit Trump lässt nichts anderes vermuten.
Das wahrscheinliche Ergebnis ist die letztendliche Einbeziehung Syriens in die Abraham-Abkommen. [Als Abraham-Abkommen wird ein multilaterales Abkommen bezeichnet, das am 15. September 2020 von mehr als 15 Staaten unterzeichnet wurde. Es soll die Dialogbereitschaft und Zusammenarbeit zwischen den Unterzeichnerstaaten (insbesondere Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate) fördern und zwischen ihnen noch bestehende Aversionen beenden. Federführend bei die Aushandlung waren die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Anm. d. Red.]
Eine zentralisierte Autorität in Syrien dient Erdoğan
Für Al-Scharaa hat Macht Vorrang vor Religion oder Ideologie. Er ist klug genug, um zu verstehen, dass er für den Erhalt seiner Macht die Unterstützung der Vereinigten Staaten und Israels benötigt. Sein Mentor und Förderer ist kein Geringerer als Recep Tayyip Erdoğan.
In seiner Denkweise unterscheidet sich Erdoğan nicht von der Islamistenallianz „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS). Die Türkei ist der einzige Staat in der Region, der weder auf strategischer noch auf ideologischer Ebene mit HTS in Konflikt steht. Die HTS strebt in ihrer derzeitigen Form die Errichtung eines stärker zentralisierten Regimes als die Baath-Regierung an. Der wesentliche Unterschied zu Baschar al-Assad besteht darin, dass HTS dem Konzept der Regierungsführung mehr religiöse Elemente beimisst.
Sowohl aus religiöser als auch aus konfessioneller Sicht gibt es keinen Widerspruch zwischen HTS und Erdoğan. Der Ausschluss der Demokratie und die Errichtung einer hyperzentralisierten Autorität passen perfekt zu Erdoğans politischer Vision. Ein demokratisches Syrien ist weder Erdoğans Forderung noch seine Präferenz. Je autoritärer das von HTS errichtete System ist, desto leichter kann Erdoğan mit ihnen zusammenarbeiten.
Die Zerschlagung der QSD als türkische Priorität
Gleichzeitig strebt Erdoğan eine Vereinbarung mit Trump an, um die QSD auszuschalten. Er betont wiederholt, dass „die QSD in die syrische Armee integriert und von innen heraus aufgelöst werden müssen“. Zwar konnte in Syrien bisher noch keine stabile Sicherheitslage erreicht werden, aber die Sicherheit der Gebiete und Bevölkerung der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat gegenüber dieser Forderung keine Bedeutung. Die Priorität der Türkei bleibt die Zerschlagung der QSD und die Verhinderung jeglicher politischer Stellung der Kurd:innen.
Keinerlei Beharren auf demokratischen Elementen
Die USA, Syrien und die Türkei arbeiten derzeit an einem Plan, die Kontrolle über Auffang- und Internierungslager für IS-Angehörige sowie über IS-Gefängnisse an die Regierung in Damaskus zu übertragen. Mit den USA sind diesbezüglich bereits Verhandlungen im Gange. Während türkische Beamte öffentlich vom Aufbau einer „kurdisch-türkischen Brüderlichkeit“ sprechen, setzen sie gleichzeitig ihre Bemühungen fort, die kurdische Präsenz vor Ort zu beseitigen.
Thomas Barrack ist sich der Forderungen der Türkei voll bewusst. HTS stimmt öffentlich allem zu, verfolgt in der Praxis jedoch weiterhin ihre eigene Agenda. Rekruten für das Militär und die Sicherheitskräfte müssen religiöse und auf der Scharia basierende Ausbildungsprogramme absolvieren. Das Ziel ist es, sie ideologisch zu vereinnahmen und ihre Hörigkeit sicherzustellen.
Es wäre naiv anzunehmen, dass die Vereinigten Staaten und die europäischen Mächte diese Praktiken nicht kennen. Selbst die sogenannte vorläufige Verfassung, die von der Übergangsregierung ausgearbeitet wurde, ist völlig frei von demokratischen Inhalten. Trotzdem wurden keine ernsthaften Einwände erhoben. Barrack und sein Team haben sich ausschließlich auf die Befindlichkeiten der Türkei konzentriert und die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen in der Region völlig außer Acht gelassen.
Historische Rollen der QSD und HTS werden bewusst ignoriert
Aber ist die Revolution in Syrien allein das Werk der HTS? Die QSD haben über zwanzigtausend Tote und Verletzte zu beklagen. Sie haben den IS in Zusammenarbeit mit der internationalen Koalition besiegt. Hätte die HTS ohne diesen Sieg, ohne die Präsenz der QSD überhaupt die Möglichkeit gehabt, sich heute in Damaskus zu positionieren? Diese historischen Fakten werden bewusst ignoriert.
Barrack und sein Team sollten HTS fragen, warum die Völker der DAANES von der Regierungsführung ausgeschlossen wurden. Am 10. März unterzeichneten HTS und QSD eine Vereinbarung. Dennoch hat HTS keine einzige Person als Vertretung aus Nord- und Ostsyrien, wo ein Drittel der Bevölkerung des Landes lebt, in eine Regierungsstruktur aufgenommen. Sie haben ihnen keine Ämter oder Funktionen in Ministerien gegeben. HTS will die Macht offensichtlich mit niemandem teilen. Und vielleicht hat die DAANES diese Forderung nicht offiziell gestellt oder sie zu diesem Zeitpunkt nicht als Priorität angesehen.
Fehlende Regierungsbeteiligung weckt keine Reaktion
Allerdings haben diese Gemeinschaften ein legitimes Recht auf die Beteiligung an der Regierung des Landes. Wenn sie ausgeschlossen werden, wird HTS das Baath-Regime einfach durch eine andere Form der autoritären Herrschaft ersetzen. Was dringend benötigt wird, sind sowohl Demokratisierung als auch stärkere Mechanismen zur Dezentralisierung von Macht. Die Frage ist nicht einfach, ob die QSD in die nationale Armee integriert werden sollten. Die eigentliche Frage lautet: „Warum wurden diese Gemeinschaften nicht in die Regierung oder andere Verwaltungsorgane einbezogen?“ Diese Frage muss gestellt und mit Nachdruck verfolgt werden.
HTS setzt auf Massaker, nicht auf Demokratie
Darüber hinaus löst HTS Konflikte nicht mit demokratischen Mitteln. In früheren Konflikten mit der alawitischen Bevölkerung griffen sie zu Gewalt, was zu Massakern führte. Alawitische Frauen und Mädchen wurden entführt und als Kriegsbeute behandelt. Über diese Vorfälle wurde seinerzeit in den Medien ausführlich berichtet.
HTS zeigt gegenüber der drusischen Gemeinschaft keine andere Haltung. Hätte das dschihadistische Bündnis die Macht und die Mittel dazu, würde es allen Gemeinschaften absolute Loyalität auferlegen und diejenigen, die sich widersetzen, massakrieren. Dies sind keine bloßen Vorhersagen oder spekulativen Kommentare, sondern Muster, die sich aus jahrelangen Beobachtungen von Handlungen und Praktiken ergeben.
Friedliche Koexistenz bedroht
Vor weniger als zwei Wochen wurde eine Kirche in Damaskus Ziel eines Selbstmordanschlags mit zahlreichen Toten und Verletzten. Welche Denkweise und welcher Geist könnten solche Gewalt rechtfertigen? Wie kann man Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Religion oder Weltanschauung zum Tode verurteilen? Steht dahinter die Absicht, die religiöse Vielfalt der Welt durch Massenmord auszulöschen?
Die Länder des Nahen Ostens sind uralt. Seit Tausenden von Jahren leben hier Menschen unterschiedlicher Ethnien und Glaubensrichtungen zusammen. Und nun sollen sie ausgerottet und vertrieben werden? Christliche und Menschen anderer Glaubensrichtungen werden aus diesen Ländern „gesäubert”. Das Ziel ist es, ihnen ein Gefühl der Unsicherheit zu vermitteln, damit sie sich gezwungen sehen, zu gehen.
Das ist die Denkweise von HTS. Daran besteht kein Zweifel. Wäre das nicht der Fall, hätten sie längst ernsthafte Maßnahmen ergriffen und sinnvolle Schritte unternommen.