Massaker von Vartinîs: Kassationshof ordnet Wiederaufnahmeverfahren an

1993 wurde im Dorf Vartinîs bei Mûş eine neunköpfige kurdische Familie vom türkischen Militär ausgelöscht. Das Massaker blieb bislang ungesühnt, doch nun könnte ein Kassationsurteil die Wende bringen – wenn da nicht die Verjährungsfrist wäre.

Den Befehl für das Massaker von Vartinîs, bei dem 1993 eine neunköpfige Familie ausgelöscht wurde, gab der damalige Hauptmann der Kreiskommandantur der türkischen Gendarmerie in Dêrxas (tr. Hasköy), Bülent Karaoğlu. Zu diesem Ergebnis kam diese Woche die 1. Strafabteilung am türkischen Kassationshof in Ankara. Das oberste Berufungsgericht hob den Freispruch für Karaoğlu auf und verwies das Verfahren zur Neuentscheidung an eine Kammer des Regionalgerichts im zentralanatolischen Kırıkkale. Fällt das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren nicht in den nächsten zwei Jahren und fünf Monaten, wäre die Verjährungsfrist abgelaufen. Der Fall würde sich damit einreihen in die endlose Kette von Massakern und Gewalttaten der türkischen Armee an der kurdischen Bevölkerung, die bis heute ungesühnt bleiben.

Das Massaker von Vartinîs

Es ist der 2. Oktober 1993. Im Umland des Dorfes Vartinîs (Altınova), das zum Kreis Tîl (Korkut) in der nordkurdischen Provinz Mûş gehört, finden Auseinandersetzungen zwischen PKK-Mitgliedern und dem türkischen Militär statt. Im Zuge der Gefechte wird ein Unteroffizier getötet. Für die Verantwortlichen der Armee liegt die einzige Schuld bei den Bewohner:innen von Vartinîs, weil diese den „Terroristen“ Unterschlupf gewähren würden. Auf dem Weg zur Evakuierung des toten Offiziers durchqueren die Soldaten das Dorf und geben Schüsse in die Luft ab. „Wir kommen wieder und brennen euer Dorf nieder“, heißt es später beim Verlassen von Vartinîs.

Um etwa 3 Uhr in der folgenden Nacht setzen die Soldaten ihre Drohung in die Tat um. Scheunen, Tierställe und Häuser in Vartinîs gehen nach und nach in Flammen auf. Geschockte Menschen irren umher, versuchen ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Tierherden vor den lodernden Flammen zu retten. Doch die zu hunderten sich im Dorf positionierten Soldaten verhindern die Löschversuche der Menschen, gehen dabei systematisch vor. Die meisten Bewohner:innen sind am Ende nur froh, am Leben zu sein. Eine Familie hat kein Glück: Die Familie Öğüt.

Mehmet Nasir Öğüt, seine schwangere Ehefrau Eşref Oran und die gemeinsamen Kinder Sevda Öğüt, Sevim Öğüt, Mehmet Şakir Öğüt, Mehmet Şirin Öğüt, Aycan Öğüt, Cihan Öğüt und Cinal Öğüt – neun Mitglieder ein und derselben Familie, sieben davon minderjährig, verlieren auf qualvolle Weise in den Flammen ihr Leben. Später kommt heraus, dass das Haus der Öğüts durch Soldaten von außen abgeriegelt wurde. Sie haben also gar keine Chance, den Flammen zu entkommen. Nur eine Tochter der Familie überlebt: Aysel Öğüt hat Glück, weil sie die Nacht bei einer benachbarten Freundin verbringt. Sie muss mit ansehen, dass sich weder ihre Eltern noch ihre Geschwister aus dem lichterloh brennenden Haus retten können.

Die Familie Öğüt in ihrem Haus in Vartinîs

Kolonialistische Nichtaufarbeitung

Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit dem Massaker von Vartinîs steht synonym für die kolonialistische Nichtaufarbeitung unzähliger staatlicher Verbrechen an der kurdischen Gesellschaft in der Türkei. Über Jahre verschleppte Verfahren und in den Archiven der türkischen Justiz verstaubte Mordakten gehören spätestens seit der Staatsgründung zu den gängigen Methoden der Kultur der Straflosigkeit. Aysel Öğüt hatte ihre erste Beschwerde gegen das Massaker an ihrer Familie an die Generalstaatsanwaltschaft Muş herangetragen. Wegen „fehlender Zuständigkeit“, weil es sich um einen „von der PKK verübten Terrorakt“ gehandelt hätte, verwies die Behörde den Fall an das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir (ku. Amed). Die dortige Staatsanwaltschaft sah wegen dem behaupteten Terrorakt ebenfalls keinen Anlass, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, und schloss die Akte mit dem Verweis: „Morde unbekannter Täter“.

Akte wird Ball in Ping-Pong-Spiel bei Justizbehörden

Im Zuge der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union wurden 2003 eine Reihe von Gesetzesänderungen vorgenommen. Aysel Öğüt nahm dies zum Anlass, erneut Anzeige zu erstatten. Dieses Mal legte die Staatsanwaltschaft in Mûş Beschwerde bei der Militärstaatsanwaltschaft des 8. Korps von Elazığ (Xarpêt) als zuständige Anklagebehörde gegen mehrere Beschuldigte ein, die des Massakers verdächtigt wurden. Weil dort sieben Jahre lang nichts geschah, war wieder der Staatsanwalt von Muş am Zug. 2013, nach zweijähriger Suche nach einem Gericht, das sich bereit erklärte, wurde Anklage gegen Hauptmann Bülent Karaoğlu, Leutnant Hanefi Akyıldız (Kompaniechef der Gendarmerie von Hasköy), Şerafettin Uz (Abteilungsleiter für Spezialoperationen der Polizei Muş) und Stabsfeldwebel Turhan Nurdoğan (Kommandant der Gendarmerie-Wache Gökyazı) erhoben. Der Vorwurf: Brandstiftung mit Todesfolge in neun Fällen. Es begann ein Ping-Pong-Spiel bei den Justizbehörden, die sich aus „Sicherheitsgründen“ nicht entscheiden wollten, wo das Verfahren um das Massaker von Vartinîs verhandelt werden soll. Man entschied sich schließlich für Kırıkkale im Osten von Ankara. Das dortige Strafgericht sprach alle Angeklagten frei.

Kassationshof: Freispruch für Karaoğlu rechtswidrig

2016 landete die Akte beim Kassationsgerichtshof. Dieser stellt fünf Jahre später in seiner Urteilsbegründung fest: „Zeugenaussagen bestätigen, dass der Angeklagte, der als Gendarmerie-Divisionskommandeur des Bezirks Hasköy fungierte, an der Operation teilgenommen hat. In seiner Pflicht als Befehlshaber der Gendarmerie des Distrikts wäre es ohnehin undenkbar, dass sich der Angeklagte an einer Operation in seinem Verantwortungsbereich als Person mit dem höchsten Rang nicht beteiligt. Unter Bezugnahme auf seine Äußerungen nach dem Tod des Unteroffiziers besteht kein Zweifel daran, dass der Brand gemäß den Anweisungen und Befehlen des Angeklagten verursacht worden ist.“ Weiter heißt es, dass der Tatbestand Brandstiftung mit Todesfolge von den Instanzgerichten fehlerhaft dargestellt wurde, der Freispruch für Karaoğlu „als Verantwortlicher des Hausbrands“ somit rechtswidrig war. Im Wiederaufnahmeverfahren müsse der Vorwurf lauten: „Anstiftung zur qualifizierten Form der Tötung“. Die Freisprüche für die drei anderen Militärs wurden vom Kassationshof bestätigt.

Anwalt: Täter werden belohnt

Der Hinterbliebenenanwalt Kadir Karaçelik, der zugleich Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Mûş ist, kann sich dennoch nicht über das Urteil freuen. „In jeder Phase der Ermittlungen sind die Angeklagten von den Strafverfolgungsbehörden belohnt wurden, auch jetzt“, meint der Jurist. „Sicherlich ist es positiv, dass dieses Urteil vom Kassationshof kommt. Aber warum mussten wir fünf Jahre auf die Entscheidung warten?“ Karaçelik hat ernsthafte Bedenken, ob die endgültige Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren bis zum 3. Oktober 2023 gesprochen wird. Dann wäre die 30-jährige Verjährungsfrist abgelaufen. „Und die Täter des Massakers würden wieder belohnt“.