Im Dezember 2017 ordnete der türkische Staat die Zerstörung des Gefallenenfriedhofs Garzan in der nordkurdischen Provinz Bedlîs (tr. Bitlis) an. Die Ruhestätte lag in der Nähe des Dorfes Oleka Jor, begraben waren dort hunderte Mitglieder der kurdischen Guerillaorganisationen HPG und YJA-Star sowie der YPG und YPJ. Ihre Leichname wurden nach der Zerstörung des Friedhofs auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Istanbul exhumiert und in die dortige Gerichtsmedizin verschleppt. Anschließend wurden sie auf dem jüdischen Friedhof Kilyos unweit des gleichnamigen Badeortes am europäischen Eingang des Bosporus begraben, in einem Abschnitt für „Tote ohne Namen“. Insgesamt waren vom Friedhof in Garzan die sterblichen Überreste von 282 Menschen verschleppt worden. Erst seit Ende 2019 ist bekannt, wohin die Knochen gebracht wurden. Nur 22 Leichname wurden danach wieder den Angehörigen übergeben.
Unter den in Plastikboxen in Kilyos verscharrten Toten war auch Nadire Elma (Nom de guerre: Nalîn Mêrdîn). Nach 21 Jahren sind ihre sterblichen Überreste an ihre Familie ausgehändigt worden. „Die Knochen meiner Tochter waren in einer Plastikbox. Als mir der Behälter in die Arme gelegt wurde, habe ich zwischen den Knochen Strümpfe gesehen. Die Strümpfe waren 21 Jahre mit den Gebeinen vergraben“, sagt Mecbure Elma, die Mutter der gefallenen Guerillakämpferin.
Nadire Elma stammte aus Mêrdîn (tr. Mardin) und war erst 14 Jahre alt, als sie gegen den Staatsterror aufbegehrte und sich 1992 der PKK anschloss. 1999 ist sie zusammen mit drei weiteren Kämpfer:innen bei einem Gefecht gegen die türkische Armee in Sêrt (Siirt) gefallen. Von ihrem Tod erfuhr die Familie erst 2007. Der Leichnam wurde den Eltern vorenthalten. Jetzt sind die sterblichen Überreste neben dem Grab ihres Vaters beigesetzt worden.
Ihre Mutter Mecbure Elma hat gegenüber ANF von ihrer Tochter, ihren Strümpfen und ihrer Suche nach der Leiche berichtet. Dafür holt sie zwei sorgsam behütete eingerahmte Fotos aus einer Truhe, dazu ein gelb-rot-grünes Tuch und die besagten Strümpfe. Dass ihre Tochter gefallen ist, hat sie erst 2007 erfahren. Lange Zeit war jedoch unbekannt, wo sich der Leichnam befindet. Erst 2015 kam die Nachricht, dass er in Garzan begraben ist.
„Meine Tochter war ein unproblematisches und talentiertes Mädchen. Sie ist nach acht Jahren in den Bergen gefallen. Wir haben jahrelang vergeblich nach ihrer Leiche gesucht. Dann hieß es, dass sie in Olek ist. Wir sind hingefahren. Auf dem Grabstein stand Nalîn Mêrdîn“, erzählt Makbule Elma.
„Sie sollte an der Seite ihrer Freunde bleiben“
Dass der Friedhof danach mit Bulldozern und Panzern zerstört und die exhumierten Leichen nach Istanbul gebracht wurden, erfuhr die Familie aus den Nachrichten: „Vorher war uns gesagt worden, dass wir die Leiche holen können. Ich wollte jedoch, dass sie in Garzan an der Seite ihrer Freunde bleibt. Viel später hieß es, dass sie in Istanbul ist. Wir sind hingefahren, aber dort war kein Grab. Die Knochen meiner Tochter sind uns in einer Plastikbox übergeben worden. Das war sehr hart. Der Gefallenenfriedhof in Garzan liegt mitten in den Bergen, aber wir konnten dort hinfahren und das Grab sehen.“
Dann nimmt Makbule Elma die Strümpfe in die Hand: „Sie waren 21 Jahre mit den Knochen vergraben. Die Leiche ist vorher nicht gewaschen worden. Es ist so viel passiert, Menschen mussten vor der Unterdrückung fliehen, sind gefallen, in den Gefängnissen gestorben, Mütter sind gestorben, sind verbrannt... Wir wollten wenigstens das Grab unseres Kindes sehen. Wir sind in unserem eigenen Land nicht frei. Mein Sohn lebt in Deutschland, als sein Vater gestorben ist, konnte er nicht zur Beerdigung kommen. Auch wenn ich sterbe, wird er nicht kommen.“
Außer den Strümpfen befanden sich keine Kleidungsstücke in dem Behälter mit den Knochen. Makbule Elma sagt: „Die Guerillakleidung haben sie ihr ausgezogen, die hat sie wohl gestört. Es gab nur diese Socken. Sie hatte zwei Paar Strümpfe übereinander angezogen. Wahrscheinlich haben ihre Schuhe gedrückt, denn da war auch noch dieses Stück Stoff. Ich habe den Leichnam meiner Tochter nach Mêrdîn gebracht und dieses Paar Strümpfe aus dem Behälter geholt. Das andere Paar haben wir wieder mit ihr zusammen begraben. Diese Strümpfe sind ein Erinnerungsstück an meine Tochter. Wir haben ihre Knochen jetzt bekommen, aber auch die anderen Familien müssen endlich die Leichen erhalten.“
Beschwerde beim Verfassungsgericht
Die Istanbuler Anwaltsvereinigung ÖHD hat im Namen der Angehörigen Ende April eine Beschwerde beim türkischen Verfassungsgerichtshof in Ankara eingereicht. Hintergrund ist die verweigerte strafrechtliche Ahndung der Verschleppung hunderter Guerillaleichen. Der ÖHD sieht in dem Vorgehen der türkischen Behörden das Andenken von Verstorbenen verunglimpft und den Straftatbestand der Folter erfüllt. Die zuständige Staatsanwaltschaft lehnt es jedoch ab, Ermittlungsverfahren gegen die verantwortlichen Beamt:innen zu eröffnen und die Freigabe der Leichname anzuordnen. „Da uns die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul damit systematisch den Gang vor die Instanzgerichte verweigert, bleibt uns als Rechtsbeistand der Hinterbliebenen kein anderer Weg als der zum Verfassungsgerichtshof, um Gerechtigkeit zu erkämpfen“, so der ÖHD.