Wir alle kennen nun Halise Aksoy. Die Mutter, die drei Jahre lang dafür kämpfte, den Leichnam ihres gefallenen Sohnes und Guerillakämpfers Agit Ipek (Nom de Guerre: Kemal Berxwedan) ausgehändigt zu bekommen. Agit war 2017 in Dersim gefallen. Seine Überreste wurden ihr schließlich ausgehändigt: in einer Kiste und per Post – verschickt durch die Generalstaatsanwaltschaft in Dersim. Selbst wenn wir ihren Namen vergessen sollten, wird es schwierig sein, das Bild zu vergessen, auf dem sie mit dem Postpaket abgebildet ist. Diese Situation kommentierte Halise Aksoy mit den Worten: „Ich kann dazu nichts sagen, ich finde keine Worte dafür…“.
Diese Kiste wird als Wahrheit von nun an in unserem Gedächtnis bleiben. Sie trägt sowohl die Wahrheit der kurdischen Gesellschaft in sich, als auch den Charakter des türkischen Staates.
All dies ist sehr „normal“ geschehen. Der stellvertretende AKP-Fraktionsvorsitzende Cahit Özkan äußerte dazu im türkischen Parlament, es handele sich um „ein paar Knochenstücke“ und der Vorgang entspreche dem geregelten Verfahren. Wie sehr erinnert diese Verlautbarung des AKP-Politikers Özkan den Worten eines Polen, der aus einem Konzentrationslager der Nazis fliehen konnte: „Sie konnten Menschen töten und verhielten sich dabei ganz normal, ich konnte das nicht verstehen.“[1] Dieser Zustand oder diese „Normalität“ hat in den letzten fünf Jahren in Kurdistan ein anderes Ausmaß angenommen.
Die kurdische Gesellschaft verteidigen
Durch den seit über 40 Jahren währenden Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung unter Führung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) haben die Geschehnisse in Kurdistan internationale Aufmerksamkeit geweckt. Die kurdische Frage ist im 21. Jahrhundert zu einer internationalen Angelegenheit geworden. Für linke, progressive Bewegungen weltweit ist darüber hinaus der gesellschaftliche Aufbruch in Kurdistan längst ein positiver Bezugspunkt geworden. Vor allem seit dem erfolgreichen Kampf um Kobanê durch die Selbstverteidigungskräfte der YPG/YPJ inspiriert die Revolution in Rojava mit ihren Säulen der radikalen Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie, Menschen weltweit, die sich für eine gerechte Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung engagieren.
Für diese Aktivistinnen und Aktivisten bedarf es hierbei einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit der kurdischen Freiheitsbewegung und den Entwicklungen in Kurdistan. Bereits in einem vorherigem Artikel sprachen wir von der „Dialektik der Revolution in Kurdistan“: „Denn die Widerstandsstrategie der kurdischen Bewegung ist eine ganzheitliche. Politische Offensiven in Nordkurdistan unterstützen Prozesse in Rojava. Rückschläge in Südkurdistan, können ihre Auswirkungen auf Rojava haben. Der Kampf wird auf mehreren Ebenen geführt. Das ist die Dialektik der Revolution in Kurdistan, und in diesem Rahmen bedarf es auch einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit der kurdischen Freiheitsbewegung, durch die sich dann auch eine effektive Solidarität entwickeln kann.“[2]
Während seit dem erfolgreichem Widerstand in Kobanê in Westkurdistan/Rojava der gesellschaftliche Aufbau eines alternativen Gesellschaftssystems – orientiert am Konzept des „demokratischen Konföderalismus“ und dessen Verteidigung – im Fokus steht, ist der geographisch größte Teil Kurdistans, nämlich Nordkurdistan, einem regelrechtem Vernichtungsfeld des türkischen Staates ausgesetzt. In diesem Sinne fasst es die kurdische Freiheitsbewegung unter Führung der PKK als ihre Hauptaufgabe auf, „unter der Bedrohung durch den Genozid die kurdische Gesellschaft (zu) verteidigen“.
Mit diesem Artikel möchten wir einen näheren Blick auf dieses Verständnis der kurdischen Freiheitsbewegung werfen. Wie bewertet die kurdische Freiheitsbewegung ihre Mission und Aufgabe? Was versteht sie unter dem für sie zentralen Begriff des „kulturellen Genozids“, der den Charakter des türkischen Staates in sich birgt? Was bedeutet dies für die Kurdistan-Solidarität?
Die Kiste mit den sterblichen Überresten von Agit Ipek wurde von der Staatsanwaltschaft seinen Eltern nach Amed (Diyarbakir) geschickt…
Die Verteidigung der „Kurdistan-These“ im Gerichtssaal von Diyarbakir
Das Militärgefängnis von Diyarbakir ist heute vor allem für seine Rolle als berüchtigtes Folterzentrum nach dem faschistischen Militärputsch vom 12. September 1980 und den Hungerstreiks und Widerständen der PKK-Gefangenen bekannt. Unter der Bezeichnung als die „Hölle von Diyarbakir“ wurde die Haftanstalt später weltweit bekannt. Dort wurden Gefangene mit brutalen und faschistisch motivierten Methoden systematisch gefoltert und erniedrigt. Bücher und Filme wie „14 Tîrmeh (14. Juli) – Die Hölle von Diyarbakir" schildern die unmenschlichen Bedingungen in der Haft.
Doch im Gefängnis von Diyarbakir hat sich nicht nur dieser Widerstand der politischen Gefangenen ereignet, sondern auch die politische Verteidigung von PKK-Mitgliedern wie Mazlum Doğan oder Mehmet Hayri Durmuş stellt einen bedeutenden Punkt in der Geschichte des Kampfes um politische Selbstbestimmung in Kurdistan dar. Trotz fünf Jahre währender schwerer Folter wurde im PKK-Hauptverfahren, dessen erste Verhandlung am 13. April 1981 gegen 591 PKK’ler begann, eine Verteidigung dargelegt, die um die 20.000 Seiten umfasste. Das ist die in diesem Umfang größte Verteidigung in der Geschichte Kurdistans. Mazlum Doğan sollte später zu der politischen Verteidigung im Hauptverfahren sagen: „Der Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit wurde den Gerichtsprotokollen beigelegt.“
Werfen wir einen näheren Blick auf diese Protokolle:
Mazlum Doğan: Wenn es die kurdische Frage nicht geben würde, wären wir nicht hier
Kurdistan war geprägt von kolonialer Unterdrückung, Verleugnung und Selbstverleugnung. Die Existenz einer kurdischen Ethnie wurde schlichtweg abgestritten. Zu Beginn seiner Verteidigung erklärte Mazlum Doğan: „Ich werde hier weder für mich noch für die anderen Personen, die wegen des Parteiverfahrens vor Gericht stehen, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Realität aussagen, sondern dies in meiner Verantwortung gegenüber der Geschichte tun.“
Er ging dann auf Begriffe und Definitionen in der Anklage an und erklärte beispielsweise: „Es heißt nicht Ost- und Südostanatolien, sondern Mittel-West-Nordkurdistan“.[3]
Diese Einführung von Mazlum Doğan ist im Zusammenhang von Kolonialismus und Unterdrückungsverhältnis bedeutend. Denn die Herrschenden definieren. Sie geben die Namen. Die mit der Definitionsmacht zusammenhängende aufgebaute Beziehung ist wichtig. Sie führt zur Objektivierung. Es gibt keine gleichberechtige Beziehung. Stattdessen wird im Gericht verhindert, dass der Angeklagte eigene Sätze formt. Die Praxis der Macht ist in den Protokollen deutlich les- und spürbar.
Mazlum Doğan pflückte Stück für Stück die inkorrekten Stellen der Anklage auseinander: „Hier steht ‚unabhängiges, vereintes, demokratisches Kurdistan‘ und in anderen Stellen heißt es ‚ein kurdischer Staat basierend auf dem Marxismus-Leninismus‘. Ich muss betonen, dass es im Programm der PKK nicht ‚kurdischer Staat basierend auf dem Marxismus-Leninismus‘ heißt, sondern wie ich erklärte. Es geht um den Aufbau eines unabhängigen, demokratischen und vereinten Landes und einen Staat, der national und demokratisch sein wird und in dem sich die Gesellschaft selbst verwaltet. So heißt es im Programm.“
Zum Abschluss seiner Verteidigung gelangte Mazlum Doğan in die Diskussion über die „kurdische Geschichte“. Er legte sein Wissen über den Mittleren Osten, die kurdische Gesellschaft und Kurdistan dar: „Der Mittlere Osten stellt heute das Zentrum des Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus dar. Kurdistan ist an einem sehr strategischen Ort im Mittleren Osten. Die geostrategische Bedeutung Kurdistans muss richtig verstanden werden. Wenn man den Imperialismus aus dem Mittleren Osten vertreiben möchte, den Mittleren Osten von dem imperialistisch-kapitalistischen Block abtrennen möchte, muss man eine Revolution in Kurdistan machen, wo sich das Reaktionäre des Mittleren Ostens sammelt. (…) Ich selbst habe jede Veröffentlichung über Kurdistan und die Kurden gelesen. Ich habe mich damit nicht begnügt, sondern auch Texte gelesen, in denen es nur einen Satz oder ein Wort gibt. Wenn es ein Problem namens Kurden oder Kurdistan nicht geben würde, dann hätte es auch nicht Menschen gegeben, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Soziale und gesellschaftliche Phänomene sind solche, die sich zu einer gewissen Zeit aufzwingen.“
Mehmet Hayri Durmuş: Die Existenz Kurdistans steht nicht mehr zur Debatte
Mehmet Hayri Durmuş, damals Mitglied des PKK-Zentralkomitees, begann seine Verteidigung am 19. Juni 1981 im Gericht nach 45 Tagen Hungerstreik. Durmuş wollte in seiner Verteidigung eine Sache zu Ende bringen: Die Frage nach der „Existenz der Kurden“. Diese Thematik wurde vom Gericht mit rassistischen und faschistoiden Nachfragen immer wieder provokativ aufgeworfen. Einige Fragen des Richters in diesem Kontext waren zum Beispiel: „Woher nimmst du diesen Kurden, warum trennst du die türkische Nation? Woher nimmst du das, ohne die Geschichte zu kennen? Was ist deine Quelle? Welche historischen Dokumente belegen dies? Woher sollte diese kurdische Sprache kommen, sie ist nur eine Mischung aus 90 Prozent Persisch und 10 Prozent Laristani? Eine Mischung aus Arabisch, Persisch und Englisch ist doch kurdisch. Habt ihr Untersuchungen zur Sprache angestellt?“
Gegen diese kolonialistische Praxis antwortete Durmuş in gewissem Sinne mit der Verteidigungsstrategie des Bruchs (défense de rupture), die vom französischen Rechtsanwalt Jacques Vergès theorisiert und praktiziert wurde. Er verweigerte also das Einlassen auf das heimliche Einverständnis, die das konventionelle Plädoyer kennzeichnet, und sagte: „Wir verfügen nicht über ein rassistisches, nationalistisches und chauvinistisches Verständnis und haben kein Auge auf das Land anderer. Die Gebiete, die von der kurdischen Gesellschaft historisch besiedelt sind, werden von uns als Kurdistan bewertet… Ich möchte nicht mehr auf dieses Thema eingehen, ich möchte es auch nicht zum Diskussionsthema machen, doch ich sehe, dass die Gerichtsdelegation dieses Thema, also die Existenz oder Nicht-Existenz der Kurden und Kurdistans immer wieder zur Debatte stellt. Diese Situation ist für uns befremdlich. Dieses Thema ist heute so klar, dass darüber nicht diskutiert werden muss…“.[4]
Am 14. Juli 1982 verkündete Mehmet Hayri Durmuş seinen Eintritt in das Todesfasten, da das „Recht auf politische Verteidigung verhindert“ werde. Aus Protest gegen die unerträgliche Folter hatte Mazlum Doğan bereits über drei Monate zuvor seine Zelle in Brand gesetzt und sich erhängt.
„Ein Kampf zur Klarstellung der Frage, ob es die Kurden gibt oder nicht“
Das grundlegende Ziel der PKK war es bislang, die kurdische Frage sichtbar zu machen. Die Tatsache, dass in ihrer Gründungsphase die kurdische Realität verleugnet wurde, drängte die Existenzfrage auf. Deshalb hat die PKK zunächst versucht, die Existenz dieser Frage unter Beweis zu stellen. So heißt es im aktuellen PKK-Programm, dass beim 11. Parteikongress im Jahr 2014 angenommen wurde, dazu: „Die PKK hat mit ihrem Kampf, wenn auch nicht das Erreichen der vollständigen nationalen Freiheit, das System der Verleugnung und Vernichtung auf eine ernste Art und Weise zerschlagen und die Existenz und das freie Leben der kurdischen Gesellschaft garantiert. Auf dieser Grundlage wurde in Nordkurdistan der Aufbau einer demokratischen Nation auf einem gewissen Niveau entwickelt, die Gesellschaft Westkurdistans in einen Aufbauprozess der gesellschaftlichen Freiheit und demokratischen Nation gebracht, die Gesellschaft in Ostkurdistan in einen Prozess der Bewusstseinsbildung und Organisierung der demokratischen Nation, in Südkurdistan eine indirekte Wirkung auf die etatistische Lösung der kurdischen Frage ausgeübt und die Kurden im Ausland mit dem Bewusstsein der demokratischen Nation in die Lage gebracht, den Freiheitskampf Kurdistans zu unterstützen. Somit hat die kurdische Gesellschaft die erste Etappe mit der Sichtbarmachung ihrer Existenz, Identität und Realität und dem Gewinn, durch die PKK sie selbst zu sein, erfolgreich abgeschlossen. Die zweite Etappe ist nun der demokratische Lösungsprozess der kurdischen Frage. Diese wird sich im Wesentlichen im Rahmen der auf einer demokratischen Nation basierenden Lösung entwickeln und verwirklichen.“[5]
In seiner fünften Verteidigungsschrift setzt sich Abdullah Öcalan mit dieser Rolle der PKK[6] auseinander: „Der durch die PKK in den letzten 30 Jahren geleistete Kampf wurde in Hinsicht auf die Kurden nur für die Existenzfrage geführt. Dieser Kampf war in gewissem Sinne ein Kampf zur Klarstellung der Frage, ob es die Kurden gibt oder nicht gibt. Während die eine Seite erklärte, dass die Kurden existieren, wurde es von der anderen Seite verleugnet. (…) Ohne Zweifel ist es für ein Individuum und eine Gesellschaft eine sehr gefährliche und erbärmliche Lage, seine eigene Existenz zu diskutieren. Es zeigt den schmalen Grat zwischen Leben und Tod auf.“
Während die Existenz der kurdischen Gesellschaft und Kurdistans heute eine Selbstverständlichkeit ist, auch wenn es noch keinen anerkannten politischen Status gibt, führen die oben aufgeführten Diskussionen in den Gerichtssälen vom Diyarbakir-Gefängnis über das Sein oder Nicht-Sein und der Tod zahlreicher PKK-Mitglieder diesen „schmalen Grat zwischen Leben und Tod“ klar vor Augen.
Der türkische Staat als Regime des „kulturellen Genozids“
Die Aushändigung der sterblichen Überreste von Agit Ipek kann als ein Gipfel der Verrohung von Gewalt und dem Niedergang der Moral in der Türkei gegenüber den Kurden betrachtet werden. Man sollte dieses Ereignis nicht losgelöst von den Entwicklungen in Nordkurdistan seit dem Jahr 2015 betrachten. Die Errungenschaften der kurdischen Gesellschaft sind seitdem einem breitangelegtem und mehrdimensionalen Angriff des türkischen Staates ausgesetzt. Die kurdische Freiheitsbewegung fasst diese Staatspolitik unter dem Begriff des „kulturellen Genozids“ zusammen, der auf eine langfristige und schmerzhafte Vernichtung des kurdischen Lebens abzielt. In gewissem Sinne können wir einen Prozess der Rekolonialisierung Nordkurdistans durch den türkischen Staat nach dem Abbruch der sogenannten Friedensverhandlungen 2014/15 beobachten.
Diese Politik des „kulturellen Genozids“ erstreckt sich zum einen auf die politische Ebene mit der Repression gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP), von der die Hälfte der Mitglieder und Sympathisanten in türkischen Gefängnissen sitzt. Auch das Regime der Zwangsverwaltung, mit dem demokratisch gewählte kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister des Amtes enthoben und durch Staatsvertreter ersetzt werden, fällt in diesen Rahmen. Die Zwangsverwaltungen stellen jedoch nicht nur einen Angriff auf den demokratischen Willen in den kurdischen Kommunen dar, sondern auch auf die Kultur. So entfernten die Zwangsverwalter als erste Amtshandlung die an den Rathäusern aufgehängten kurdischen Beschriftungstafeln. Sie ändern die kurdischen Namen der Parks, Straßen und Alleen. So verschwanden zum Beispiel auch ein Denkmal für die Opfer des Roboskî-Massakers, der nach dem erschossenen Menschenrechtsanwalt benannte Tahir-Elçi-Park sowie die Namen des kurdischen Dichters Ehmedê Xanî und dem von türkischen Sicherheitskräften mit 13 Kugeln hingerichteten Jugendlichen Uğur Kaymaz aus dem Straßenbild von Amed. Auf diese Weise versucht der Staat, die gesellschaftliche Erinnerung an seine Massaker und die Werte der kurdischen Bevölkerung auszulöschen. Anstelle der Denkmäler der Ermordeten wurden Denkmäler für getötete Soldaten und Polizisten errichtet. Das Ganze wurde von einer Schließungswelle von Frauen- und Kulturzentren begleitet. Kurdische Schulen werden in Polizeistützpunkte umgewandelt. Mehrsprachige Theaterschulen und Dutzende Bühnen, Kunst- und Kulturzentren werden geschlossen oder sämtliche Mitarbeiter*innen entlassen, sodass die Zentren de facto still stehen. In vielen der geschlossenen Kunst- und Kulturzentren werden nun religiöse Schulen oder Korankurse eingerichtet.
Neben dieser kulturellen Ebene haben die Angriffe auch eine wirtschaftliche Dimension. Die Zwangsverwalter haben die Kommunalverwaltungen in einen Schuldensumpf manövriert. Darüber hinaus sind auch historische Kulturgüter Zielscheibe dieser Politik. Sinnbildlich dafür ist die Überflutung der 12.000 Jahre alten Stadt Hasankeyf (kurdisch: Heskîf), die zu den großartigsten Kultur- und Naturschätzen unseres Planeten gehört. Die Zerstörungen in den letzten Jahren zielten auch auf kurdische Städte ab. Die größte physische Zerstörung der historischen Altstadt Sûr in Amed erfolgte nach Ende jeglicher bewaffneter Auseinandersetzungen ab März 2016. Seitdem wurden die Häuser von 25.000 zwangsvertriebenen Menschen komplett abgerissen. Dasselbe erfuhren etwa 175.000 Menschen in anderen zerstörten Orten wie Cizîr (Cizre), Nisebîn (Nusaybin) und Şirnex (Şirnak). In diesen Orten und Sûr wurden mehrere hundert Zivilisten gezielt getötet.
Dies sind nur einige Beispiele für die von kurdischer Seite als Politik des kulturellen Genozids bezeichnete türkische Staatspolitik nach der Devise: „Der beste Kurde ist ein toter Kurde.“ Die heute von der AKP-Regierung praktizierte antikurdische Politik stellt sogar diejenige aus den Jahren der Militärdiktatur sowie des schmutzigen Krieges der türkischen Regierung in den Neunzigern in den Schatten. Während der Staat in den achtziger und neunziger Jahren Kurden, die für ihre Identität einstanden, von Paramilitärs, Polizisten oder Soldaten erst verschleppen, dann töten und anschließend in Massengräber oder an Straßenränder werfen ließ, mordet er heute öffentlich, unverdeckt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Als sei das Töten von Kurden vollkommen legitim und rechtens.
Mit der Entsendung der sterblichen Überreste von getöteten PKK-Kämpfern soll die Wirkung der staatlichen Brutalität erhöht und der Schmerz und die Wut der Angehörigen sowie der kurdischen Gesellschaft maximiert werden. Es soll ein kollektives Gefühl von Hilflosigkeit geschaffen werden. Ziel ist es, die Angehörigen in extremer Weise zu traumatisieren und so zur Kapitulation zu zwingen, indem ihr Widerstandswille und ihre Kampfmoral gebrochen werden.
Die kurdische Gesellschaft leistet trotz des vieldimensionalen Staatsterrors seit Jahrzehnten pausenlosen Widerstand. Dieser Widerstand wird trotz aller Massaker fortgesetzt, weil sich die kurdische Gesellschaft ihrem Schmerz nicht ergibt. Sie weiß Schmerz und Wut in eine Quelle von Widerstand zu verwandeln. Wenn sie sich ihrem Schmerz ergeben würde, könnte sie nicht weiterleben. Und so wird in Kurdistan – in den Worten von Mazlum Doğan – „Widerstand zu Leben“. Der kurdische Widerstand schöpft Kraft aus Schmerz und Leben aus dem Tod. Dass ein Volk dazu gezwungen ist, aus dem Tod Leben zu schöpfen und das Recht auf Leben sterbend zu verteidigen, ist furchtbar und schrecklich. Dass eine Gesellschaft so viel sterben muss, um zu leben, ist unvorstellbar. Aber das ist Realität in Kurdistan. Und es ist eine Schande für diejenigen, die dem zusehen. Der einzige Weg, diese Schande aufzuheben und dementsprechend das Töten in Kurdistan zu beenden, ist, das Recht auf Leben aktiv zu verteidigen. Und Leben bedeutet nicht nur Überleben. Es bedeutet, ein lebenswertes Leben leben zu können. Beim Widerstand in Kurdistan geht es genau darum.
[1] Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität
[2] https://anfdeutsch.com/hintergrund/rojava-wie-verteidigen-12967)
[3] http://www.saradistribution.com/mazlum_dogan_savunma.htm
[4] http://www.saradistribution.com/hayri_durmus_savunma.htm
[5] Übersetzt aus http://www.serxwebun.org/arsiv/385/files/assets/common/downloads/publication.pdf
[6] Das Buch erschien 2011 auf Türkisch. Es wurde von Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali verfasst. Auf Deutsch lautet der Titel in ungefähr: Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation. Eine deutsche Übersetzung liegt bisher noch nicht vor.
*Ali Çiçek ist Mitarbeiter von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.