Rojava verteidigen, aber wie?

Kommentar von Ali Çiçek zur Tag-X-Diskussion im Falle eine militärischen Invasion der Türkei in Nordsyrien.

Der türkische Staatspräsident Erdoğan droht offen, die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zu zerschlagen, während sich an der türkisch-syrischen Grenze türkisches Militär versammelt. Für die vielen Linken, Antifaschist*innen, Internationalist*innen und Menschen, die mit dem gesellschaftlichen Aufbruch in Rojava sympathisieren, ist dies der Anlass in der jeweiligen Stadt mit Menschen gleicher Gesinnung oder im jeweiligen Solidaritätskomitee zusammenzukommen, um angesichts der Dringlichkeit der Lage zu besprechen, wie man bei einer türkischen Intervention angemessen reagiert. Man bereitet sich auf den sogenannten Tag X vor, den Tag, an dem die Intervention beginnen wird.

Die Rojava-Revolution jährte sich am 14. Juli zum siebten Mal. Seit sieben Jahren verfolgen viele Menschen – auch vor Ort – das ambitionierte Projekt, im krisengeschüttelten Mittleren Osten ein antikapitalistisches, ökologisches und auf Geschlechterbefreiung beruhendes Selbstverwaltungssystem aufzubauen. Rojava war in diesen sieben Jahren von zahlreichen Kräften in seiner Existenz bedroht. Zehntausende Menschen haben in diesem Kampf um Selbstverteidigung ihr Leben gelassen, mehr als doppelt so viele sind verletzt worden.

In diesen sieben Jahren hat es die Drohungen einer umfassenden Intervention durch den türkischen Staat wiederholt gegeben. Während die Revolution im Jahr 2014 vor dem Islamischen Staat verteidigt wurde, besetzte im Frühjahr 2018 das NATO-Mitglied Türkei den nordsyrischen Kanton Efrîn. In diesen beiden Phasen gab es eine internationale Solidarisierung mit den Menschen in Rojava. In Deutschland bildeten sich Solidaritätskomitees und es gab jeweils monatelang andauernde Aktionsphasen, um den Kampf in Rojava zu unterstützen.

Nun befinden sich dieselben Kreise zusammen mit der kurdischen Community erneut in Alarmbereitschaft. Im Lichte der Erfahrungen der letzten sieben Jahre tun sich hierbei zwei Punkte auf, die es gilt, gemeinsam zu diskutieren, um den gemeinsamen Kampf langfristig erfolgreich fortzusetzen: In den Diskussionen über Tag X zeigt sich nämlich einerseits deutlich ein unzureichendes Verständnis der Revolution in Kurdistan und zum anderen eine organisatorische und aktionistische Strategielosigkeit bzw. Kurzfristigkeit.

Die Revolution in Kurdistan richtig verstehen – Kennen, was man verteidigen möchte!

Grundbedingung für eine richtige Solidarisierung mit der Revolution in Rojava bzw. eine Internationalisierung des Kampfes ist die Erkenntnis der politischen Lage in Kurdistan und der Widerstandslinie der kurdischen Freiheitsbewegung. Meinungsbildung, die sich am Mainstream orientiert, verhindert, den Kampf in Kurdistan ganzheitlich zu betrachten. So ist dann auch die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht nachhaltig, sondern vorübergehend. Wenn die Grundbedingung einer richtigen Solidarisierung die Erkenntnis der Realität ist, so ist es zuallererst wichtig festzustellen, dass die Diskussion für den sogenannten Tag X, wie sie im Moment erfolgt, nicht über die notwendige Tiefe verfügt. Bei einem ganzheitlichen Blick auf die Revolution in Kurdistan ist es notwendig, die Entwicklungen in Rojava als Teil eines Ganzen zu betrachten. Sowohl im Sinne der Strategie des Feindes, als auch im Sinne der Widerstandsstrategie der kurdischen Freiheitsbewegung. Denn der Tag X ist schon längst überschritten, der Krieg dauert in seiner vollen Brutalität bereits seit vielen Jahren an. Langfristig befindet sich die kurdische Gesellschaft seit dem 15. August 1984 in einem Krieg mal niederer, mal höherer Intensität. Seit über 40 Jahren fallen fast täglich Widerstandskämpfer*innen im Kampf gegen den Kolonialismus der jeweiligen vier Länder, in die Kurdistan aufgeteilt wurde, sowie gegen den westlichen Imperialismus. Der Krieg zwischen der türkischen Armee und den Volksverteidigungskräften (HPG) in Nordkurdistan ist seit dem Ende der Friedensverhandlungen im Juli 2015 erneut entflammt. In Südkurdistan hat Anfang Mai dieses Jahres eine breitangelegte Intervention begonnen, bei der die türkische Armee bis zu 30 Kilometer in Südkurdistan bzw. Nordirak eingerückt ist mit dem selbst erklärten Ziel, die PKK „auszurotten“. Die politische Führung der kurdischen Gesellschaft ist besonderes Ziel der Angriffe. Das Mitglied des Präsidialrates der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Diyar Xerib (Helmet) wurde bei einem Luftangriff der türkischen Armee auf Qendîl am 5. Juli getötet. Am 21. März wurde ein Anschlag auf das Diplomatiekomitees der KCK verübt, bei dem Ali Aktaş, Emrullah Dursun, Mikail Özdemir, Vehip Tekin und Celal Öztürk getötet wurden. Neben dem Krieg in Südkurdistan, der durch einen heftigen Widerstand der Guerilla beantwortet wird, hat Erdoğan auch seine Drohung gegenüber Rojava verstärkt.

Hierbei ist es wichtig zu verstehen, warum diese militärische Aggression des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung in den letzten Monaten so zugenommen hat. Es ist zum einen ein strategisches und ideologisches Ziel des türkischen Staates, die kurdische Freiheitsbewegung zu vernichten und die kurdische Gesellschaft ihrer Assimilationspolitik zu unterwerfen. Darüber hinaus ist es aber auch ein Akt, der sich an der aktuellen politischen Konjunktur orientiert. Denn vor diesem Besatzungsangriff Anfang Mai hatte die kurdische Freiheitsbewegung mithilfe der Hungerstreikaktionen die politische Agenda in der Türkei und in Kurdistan dominiert. Die Türkei wurde in Zugzwang gebracht, der mediale, gesellschaftliche und politische Diskurs innerhalb der Türkei wurde eine Zeit lang durch die Politik der kurdischen Freiheitsbewegung bestimmt. Im Hungerstreik gegen die vollständige Isolation des Vordenkers Abdullah Öcalan wurden Diskussionen über die Isolation in den türkischen Gefängnissen sowie der kurdischen Gesellschaft laut und es gab Ansätze einer Diskussion über die kurdische Frage, in der die Demokratische Partei der Völker (HDP) über eine neue Verfassung sprach. In diesem Sinne ist der erneute Kriegskurs der türkischen Regierung auch eine Intervention in das politische Geschehen, mit dem Ziel, die politische Agenda zu verändern und vollständig zu bestimmen.

Die Auseinandersetzung innerhalb der Linken in Deutschland über den Hungerstreik ist in diesem Kontext kein abgeschlossenes Kapitel. Der Widerstand während des sechs Monate währenden Hungerstreiks hatte in vielerlei Hinsicht Mängel. So formuliert die kurdische Freiheitsbewegung offen ihre Selbstkritik, dass in dieser Widerstandsphase die ganze Last auf den hungerstreikenden Gefangenen lag und eine Mobilisierung der Gesellschaft nicht wirklich erreicht werden konnte. Während man sich also auf den Tag X vorbereitet, sollte man auch innehalten und darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn man diese politische Offensive während des Hungerstreiks unterstützt und mitgetragen hätte. Nicht nur im aktionistischen Sinne, sondern so, dass man all diese Kämpfe zusammen denken muss.

Denn die Widerstandsstrategie der kurdischen Bewegung ist eine ganzheitliche. Politische Offensiven in Nordkurdistan unterstützen Prozesse in Rojava. Rückschläge in Südkurdistan, können ihre Auswirkungen auf Rojava haben. Der Kampf wird auf mehreren Eben geführt. Das ist die Dialektik der Revolution in Kurdistan, und in diesem Rahmen bedarf es auch einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit der kurdischen Freiheitsbewegung, durch die sich dann auch eine effektive Solidarität entwickeln kann.

Von Widerstand zum Aufbau – zwei, drei, viele Rojavas!

Der zweite Punkt betrifft die organisatorische und aktionistische Ebene. In den vergangenen sieben Jahren der Rojava-Revolution wurden Dutzende Solidaritätskomitees gegründet und unzählige Aktionen durchgeführt. Während in Zeiten der militärischen Eskalation wie in Kobanê und Efrîn die organisatorische Stärke und die Intensität und Quantität der Aktionen ihre Höhepunkte erlebte, sah es in den Monaten der vermeintlichen Ruhe mau aus. Im gewissen Sinne hat sich in den sieben Jahren eher der Stil entwickelt, dass man darauf wartet, wann wieder ein größerer Konflikt droht, um erst dann wieder in größeren Gruppen zusammenzukommen und aktiv zu werden. Diese Situation wird als normal empfunden, die Leute kommen erst dann wieder zusammen, wenn etwas los ist heißt es allgemein. Macht jedoch einen politischen Aktivisten, eine politische Aktivistin nicht das Merkmal aus, dass Bestehende nicht hinzunehmen und auf die Veränderung dessen zu beharren?

Wenn man nicht auf dem Niveau der letzten sieben Jahre begrenzt bleiben und die gewohnte Art und Weise der Organisierung und Aktionen reproduzieren möchte, braucht es eine selbstkritische und ehrliche Reflexion der letzten intensiven Aktionsphase während der Besetzung Efrîns, also auch ein Überdenken der eigenen Rolle innerhalb der Metropole gegenüber der Revolution in Rojava. In der Aktionslinie des demokratischen Konföderalismus trägt jede Aktion das Ziel, Organisierung zu schaffen und auszubauen. Das ist das zentrale Qualitätskriterium für Erfolg. Eine Aktion, die keine Organisation oder Organisierung schafft bzw. stärkt, bleibt ohne wirklichem Erfolg. In diesem Sinne hat die Aktionsphase während Efrîns Besatzung durch die Türkei und seine dschihadistischen Gruppen vielleicht die öffentliche Meinungsbildung maßgeblich beeinflusst und die Mittäterschaft der deutschen Bundesregierung thematisiert, doch konnte sie nicht dem Anspruch gerecht werden, nachhaltige Beziehungen in den Städten aufzubauen.

An diesem Punkt können wir von Rojava lernen. Die dortige Revolution orientiert sich an der Perspektive der Gleichzeitigkeit von Aufbau und Widerstand. Selbstverteidigung bedeutet in Rojava Aufbau eines alternativen Lebens, die Bildung der Gesellschaft, die Stärkung der lokalen Rätestrukturen. Die Revolution in Rojava wartet nicht auf den Angriff, sie reagiert nicht bloß, sondern ist handelndes Subjekt, in dem sie alle Bereiche des Lebens, sei es die Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Kultur etc. selbst organisiert und dabei versucht, die großen Teile der Gesellschaft miteinzubeziehen.

Aufbau und Widerstand als internationalistische Antwort

Angesichts der Bedrohung einer Invasion Nordsyriens/Rojavas werden wir Rojava im strategischen Sinne langfristig verteidigen können, indem wir unsere eigenen gemeinsamen Kommunen organisieren. Während das System versucht, die kämpfenden Bewegungen und Menschen voneinander zu trennen, müssen wir gemeinsame Kämpfe wie ökologische Proteste, feministische Kampagnen, antimilitaristische Aktionen, Mietkämpfe zusammen denken und lokal organisch zusammenführen. Die ideologische und organisatorische Erfahrung der kurdischen Freiheitsbewegung kann hierbei ein gemeinsamer Nenner sein. Wir sollten in unseren Diskussionen zum Tag X deshalb mit Fragen wie diesen beginnen: Gehen wir die lokal gemeinsamen Kämpfe der linken Kräfte in Deutschland und die der kurdischen Freiheitsbewegung strategisch an? Nehmen wir die über 80 kurdischen Vereine in deutschen Städten als einen Ort dafür wahr?