Aus dem jüngst in der nordkurdischen Stadt Kerboran (türk. Dargeçit) in der Provinz Mêrdîn (Mardin) entdeckten Massengrab wurden insgesamt 40 Schädel geborgen. Die Gerichtsmedizin in Istanbul soll nun analysieren, wann das Grab angelegt wurde. Der Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği) geht davon aus, dass es sich bei den Toten um Opfer der in den 1990er Jahren in Kurdistan gültigen staatlichen Praxis des „Verschwindenlassens” handelt.
Entdeckt worden war das Grab von sogenannten Hobby-Archäologen. Diese hatten Irfan Yakut über ihren Fund in Kenntnis gesetzt, der wiederum die staatlichen Behörden informierte. Yakut wohnt ganz in der Nähe der Fundstelle und ist seit Jahren auf der Suche nach seinem Vater Yahya. Der Mann wurde 1993 von berüchtigten Todesschwadronen des JITEM, dem informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, verschleppt und tauchte nie wieder auf.
Am Samstag hatte eine erste Ortsbegehung stattgefunden. Die Fundstelle – eine Höhle im Weiler Libka Kanîya (Gulbiş), der zum Dorf Derêca (Akyol) gehört – wurde im Vorfeld weiträumig von Polizei und Armee abgeriegelt, einer Delegation der IHD-Zweigstelle Mêrdîn, die die Freilegung der Gebeine verfolgen wollte, wurde der Zugang verwehrt. Nur Irfan Yakut durfte der Bergung und anschließenden Untersuchung beiwohnen. Die Ermittlungsakte zum Fund des Massengrabs wurde unterdessen unter Geheimhaltung gestellt.
Entdecktes Massengrab in Kerboran
Die Stadt Kerboran, deren aramäischer Name Kerburan oder Kfar Boran lautet, war bis zum Genozid an den Armenier*innen und anderer christlicher Minderheiten auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei christliches Siedlungsgebiet. Vor dem Völkermord im Jahr 1915 bestand die Stadtbevölkerung aus je einem Drittel Kurd*innen, Christ*innen syrischer Tradition und Armenier*innen. Die wenigen Suryoye – Aramäer*innen, Assyrer*innen, Chaldäer*innen – die überlebten und blieben, flohen Ende der 1970er Jahre aus der Region, als der damalige Bürgermeister Andreas Demir Lahdik 1979 Opfer eines bislang unaufgeklärten Mordes wurde. Nach diesem Vorfall änderte der türkische Staat den Namen der Stadt in Dargeçit.
Auch viele Christen unter den „Verschwundenen“
Unter den bis zu 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“, die im Zuge der dunklen Periode der 1990er aus dem Leben gerissen und in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf von Militärhubschraubern beseitigt wurden, befinden sich auch etliche Angehörige der Suryoye, die sich weigerten, ihre Siedlungsgebiete zu verlassen.