In Kerboran (türk. Dargeçit) in der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (Mardin) sind Hobby-Archäologen auf ein Massengrab gestoßen. Es handele sich vermutlich um über dreißig Skelette, sagte Irfan Yakut, ein Bewohner aus der Region, der auf der Suche nach seinem vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten verschleppten Vater ist und von den Raubgräbern über den Fund verständigt wurde. Gefunden wurden die Gebeine in einer Höhle im Weiler Libka Kanîya (Gulbiş), der zum Dorf Derêca (Akyol) gehört. Laut Yakut könnte es sich bei den Verstorbenen um Vermisste handeln, die in den 1990er Jahren verschwunden sind. Für den heutigen Samstag ist eine erste Ortsbegehung der Staatsanwaltschaft und Militärpolizei geplant, damit die Knochenfunde dokumentiert und Ermittlungen eingeleitet werden.
Geschichten von vermissten Leichnamen und Massengräbern können als kurzgefasste Geschichte der Kurdinnen und Kurden gelesen werden, die die Türkei spätestens seit der Staatsgründung als vermeintliche Bedrohung ihrer uneingeschränkten Macht wahrnimmt. Zwar war der Tod schon immer ein elementarer Bestandteil des kurdischen Befreiungskampfes, stets geprägt von einem Kreislauf des Widerstands und der Repression, aber Kurd*innen starben nicht nur im Kampf gegen ein menschenunwürdiges Leben, ihnen wurde auch ein menschenwürdiges Sterben und ebenso würdevolles Begräbnis verweigert. Vor allem in den 1990er Jahren, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, verschwanden Tausende Menschen – Dorfbewohner*innen, Journalist*innen, Politiker*innen, Menschenrechtler*innen.
Bis zu 17.000 „Verschwundene“
Schätzungen gehen von bis zu 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ während dieser dunklen Periode aus, die in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf von Militärhubschraubern beseitigt wurden. Oft waren sie von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.
Auch im Fall der freigelegten Skelette in Kerboran geht man davon aus, dass es sich um Opfer des JITEM handelt. Der Fundort liegt nur wenige hundert Meter von der Ortschaft Gêrka Cehfer (Altınoluk) entfernt, wo Irfan Yakut lebt. Dort sah er seinen Vater vor 27 Jahren zum letzten Mal. Yahya Yakut lehnte das Dorfschützersystem ab und weigerte sich, in Kurdistan für die Interessen des Staates einzutreten. Daraufhin geriet er ins Visier des Paramilitärs und wurde mehrmals mit dem Tod bedroht. Im September 1993 machte sich Yahya Yakut auf den Weg nach Konya, um dort Arbeit zu suchen. Wäre er fündig geworden, hätte er seine Familie nachgeholt. Aber Yahya Yakut kam nie in Konya an. Bereits in Midyad wurde der Kleinbus, in dem er saß, angehalten. Eine Gruppe Männer, die ihre Gesichter mit Schneemasken verdeckt hatten, zerrten ihn aus dem Fahrzeug heraus. Seitdem gilt er als verschwunden.
Nicht das erste Massengrab in Kerboran
„Gerade als Sohn eines Vermissten ist es mir besonders wichtig, dass sich das Schicksal der Getöteten, deren Überreste nun gefunden wurden, aufklärt. Viele Menschen in der Region kennen die Geschichte meines Vaters. Deshalb wurde ich direkt nach der Entdeckung des Massengrabs informiert“, erklärte Irfan Yakut gegenüber ANF. „Ich habe den Fundort zeitnah aufgesucht und Aufnahmen angefertigt. Gezählt habe ich 30 Schädel, wahrscheinlich liegen dort noch weitere. In Kerboran verschwanden in den 90er Jahren sehr viele Menschen. Es ist nicht das erste Massengrab, das hier gefunden wurde.“
Der Menschenrechtsverein IHD zeichnete 2011 eine Karte mit 253 Fundorten menschlicher Überreste von 3.248 Vermissten, die bis zu dem Zeitpunkt in 21 kurdischen Städten entdeckt worden waren. Zu diesen Toten gehörten auch viele Guerillakämpfer*innen der PKK, die bei bewaffneten Auseinandersetzungen und nach der Gefangennahme von der türkischen Armee getötet wurden. Das Schicksal der meisten dieser Menschen wurde bis heute nicht aufgeklärt.
Massengräber - Technik der uneingeschränkten Herrschaft
Massengräber etablierten sich in der Türkei bereits früh zu einer Technik der uneingeschränkten Herrschaft im Krieg gegen den kurdischen Befreiungskampf. Im Jahr 1925, gerade mal zwei Jahre nach Gründung der türkischen Republik, wurden der Geistliche Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) und 47 Weggefährten, die einen Aufstand gegen die gewaltsame Politik des türkischen Staates angeführt hatten, in Amed (Diyarbakır) hingerichtet und in einem anonymen Massengrab vergraben. Zwölf Jahre später wurden Seyîd Riza (kirmanckî: Sey Rıza), der wichtigste geistliche und tribale Anführer der Rebellion in Dersim, sein Sohn Resik Hüseyin und fünf seiner Freunde in Xarpêt (Elazığ) ebenfalls hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt, dessen Lage wie im Falle Şêx Seîds weiterhin ein Geheimnis bleibt.
Mutter von Panzerwagen angefahren
Irfan Yakut erlitt einen weiteren Schicksalsschlag im Jahr 2018, als seine Mutter Süphiye Yakut von einem türkischen Panzerfahrzeug angefahren wurde, während sie sich vor ihrem Haus in Kerboran mit Nachbarn unterhielt. Sie wurde schwer verletzt und zog sich diverse Knochenbrüche zu. Erholt hat sie sich nicht. Seit dem Unfall ist sie schwerbehindert.