Dersim, eine Provinz in Nordkurdistan, liegt inmitten einer unzugänglichen Bergregion mit bis zu 3.500 Meter hohen Bergen und tiefen Schluchten. Aufgrund der Berge, Täler und Wälder bot die Region den verfolgten Aleviten des Osmanischen Reichs Zuflucht vor den sunnitischen Osmanen, die gegen alle ethnischen und religiösen Gruppen vorgingen, die nicht ins Bild des Reichs passten.
Angesichts der geografischen Gegebenheiten war es Dersim weitgehend möglich, einen de-facto autonomen Status und ein Mosaik aus ethnischen und religiösen Gruppen aufrechtzuerhalten. Dies änderte sich in den 1930er Jahren, als 1934 das sogenannte Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) in Kraft trat. Die Regierung unter Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk wollte einen homogenen türkischen Staat unter türkischer Prägung. Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz der Entvölkerung zur Geltung kommen sollte. In seiner Rede zu Parlamentseröffnung 1936 bemerkte Atatürk: „Um diese Wunde, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen – egal was es koste.“
Daraufhin wurden alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung abgeschafft und ihr Grundbesitz konfisziert. Dersim wurde in Tunceli (türkisch: Eiserne Hand) umbenannt und unter Militärverwaltung gestellt. Beabsichtigt war eine politisch-administrative Reorganisation mit Hilfe militärischer Repression. Hierfür wurde der militärische Ausnahmezustand über Dersim verhängt.
1937 formierte sich ein Aufstand gegen die Assimilations- und Türkisierungspolitik des kemalistischen türkischen Staats. Dieser Aufstand wurde von Seyîd Riza angeführt. Den bewaffneten Widerstand wiederum führte das Paar Alişêr und Zarife an. Dass Frauen in den kurdischen Widerständen eine tragende Rolle spielen, hat Tradition. Doch durch einen physischen und kulturellen Genozid wurde der Aufstand in Dersim blutig niedergeschlagen.
Die Forderung zur Abschaffung der „Tunceli”-Gesetze und Gewährung einer Verwaltungsreform und nationaler Rechte wurden mit Einmarsch der türkischen Armee geantwortet. Am 4. Mai 1937 beschloss die Regierung in Ankara ihre Operation „Züchtigung und Deportation“. Sodann marschierte das türkische Militär mit 30.000 bis 40.000 Soldaten in Dersim ein und tötete bis zu 14.000 Menschen. Männer, Frauen, Alte und Kinder wurden erschossen oder – um keine Munition zu verschwenden – mit Bajonetten erstochen. Kinder wurden teilweise entführt und deportiert oder mit ihren Müttern in Heuschuppen gelockt und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt und mit Kampfflugzeugen bombardiert.
Im September 1937 bot die türkische Regierung einen Waffenstillstand samt Friedensvertrag und sogar Kompensationen an. Daraufhin begab sich der damals 75-jährige Aufstandsanführer Seyîd Riza für Friedensgespräche nach Ezirgan (Erzincan). Dort wurde er jedoch in einem Hinterhalt verhaftet, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 gemeinsam mit seinem Sohn Resik Hüseyin und fünf seiner Freunde in Xarpêt hingerichtet.
Nach der Ermordung Seyîd Rizas ging der Widerstand aber weiter - im Frühjahr 1938 schlug das Militär erneut zu: da Dersim keinen Anführer mehr hatte, hatte das Militär leichtes Spiel, den Aufstand vollständig niederzuwerfen. Die rund 100.000 Soldaten gingen nun noch brutaler vor, etwa 70.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, wurden auf grausame Weise getötet. Zivilisten, die in Berghöhlen Zuflucht suchten, wurden eingemauert, ausgeräuchert oder verbrannt. Viele Opfer, vor allem Frauen, stürzten sich aus Verzweiflung von den Bergklippen in den Munzur, um nicht gefangen genommen zu werden. Über 100.000 Menschen wurden zur Deportation gezwungen.
Dersim stellt aus Sicht der Systematik von Genozid durch Feminizid ein besonders abscheuliches Beispiel dar. Denn hier wurden Frauen nicht „nur“ ermordet, sondern durch sie sollte der physische Genozid durch den weißen Genozid vollendet werden [Anmerkung: Der Begriff „weißer Genozid” wird häufig im Zusammenhang nicht-physischer Formen von Ethnozid und Völkermord wie Vertreibung, Assimilation, Vernichtung des kulturellen Erbes und der Geschichte usw. im Kontext mit Gräueltaten an den Armeniern, Kurden, Aramäern, Assyrern und Eziden verwendet. Dies hat nichts mit der Verwendung des Begriffs durch rechtsradikale Verschwörungstheorien in westlichen Ländern zu tun, die Rassismus gegen weiße Menschen beinhalten.]. Dersim sollte vollständig zu Tunceli werden. Hierfür war eine Türkisierung und Sunnitisierung der Frauen und Mädchen notwendig. Denn kollektive Identität, Sprache, Kultur und Geist werden in ländlichen Gesellschaften überwiegend von Frauen transferiert. Die Mädchen und Frauen aus Dersim sollten nicht nur ihrer Familie, ihrer Häuser, ihrer Heimat beraubt werden, sondern von allem, was sie ausmacht: Ihrer kulturellen, sozialen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Identität. Durch sie sollten die authentische Identität von Dersim ausgeschaltet und das Kollektivgedächtnis zerstört werden. Dies geschah zum größten Teil über Verschleppung der Mädchen und jungen Frauen. Die Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids von Dersim auf staatlicher Ebene und in der Gesellschaft ist bis heute jedoch noch nicht vollzogen worden.
Angesichts seines 82. Todestages hat der Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Seyîd Riza mit einer Erklärung gedacht. Darin heißt es: „Vor mehr als acht Jahrzehnten wurden Pîr Seyîd Riza, sein Sohn und seine Freunde hingerichtet. Wir erinnern uns an sie mit Respekt und Dankbarkeit. Wir betonen, dass wir ihre Sehnsüchte und Bestrebungen nach einem freien Leben mit ihrer eigenen Identität, Kultur und Überzeugung verwirklichen werden.
Der Genozid von Dersim, bei dem die moralisch schlimmsten Verbrechen verübt wurden, die einen Höhepunkt der Kurdenfeindlichkeit darstellen, hat seinen Platz in der Geschichte eingenommen. Er verdeutlicht, dass die türkische Republik hinsichtlich der Kurden als ein repressiver, kriegerischer Staat agiert. Die letzten Worte Pîr Seyîd Rizas: ‚Ich wurde mit euren Lügen und eurer Hinterlist nicht zurechtgekommen, das ist mein Kummer. Dass ich vor euch nicht in die Knie gegangen bin, soll euch zum Leid werden’ offenbaren diese Realität. Die Haltung von Pîr Seyîd Riza hat einen wesentlichen Platz in der Bewusstseinsbildung des kurdischen Volkes. Auf eine besonders eindrucksvolle Weise hat er die Realität des türkischen Staates enthüllt. Pîr Seyîd Riza brachte zum Ausdruck, dass auf kein einziges Wort dieses Staates Verlass ist und sein Diskurs und seine Strategien lediglich das Ziel verfolgen, den Völkermord zu verbergen.
Der türkische Staat, der in Dersim die Geschichte der Kurden mit Massakern, Deportationen und einem weißen Genozig zu beseitigen versuchte, hat dieses Ziel nicht aufgegeben. Die Mentalität, die sich gestern auf die Behauptung stützte, sie bekämpfe Banditen, und so einen Völkermord verübte, beteuert heute, gegen Terroristen vorzugehen, um den kurdischen Befreiungskampf mit Verbrechen wie Massakern, Repression und politischen Vernichtungsfeldzügen zu zerschlagen. Die Politik und Mentalität des türkischen Staates sieht seine Existenz und Zukunft im Genozid garantiert. Nicht nur im eigenen Land – rassenfanatische Angriffe finden auch jenseits der Grenzen der Türkei statt. Das, was gestern in Dersim geschah, setzt sich heute mit ähnlichen Praktiken in Bakur, Rojava, Başûr und Şengal fort.
Dass Gefallene wie Hüseyin Cevahir, A. Haydar Yıldız, Mazlum Doğan, Sakine Cansız, Kazım Kulu, Dr. Baran, Süleyman Cihan, Cafer Camgöz, Atakan Mahir und Seyîd Riza sich nicht unterwarfen sondern mit der Identität und Realität Dersims Widerstand leisteten, bedeutet, dass die Kurdeninnen und Kurden ihren Kampf um ein freies Kurdistan sowie ein freies Dersim fortsetzen werden. Dieser Widerstand wird bis zum letzten Augenblick weitergehen.”