„Seid traurig und wütend, aber verliert die Hoffnung nicht"

Trotz gegenteiliger Anordnung des europäischen Menschenrechtsgerichtshof ist Selahattin Demirtaş weiter in der Türkei im Gefängnis. Der kurdische Politiker appelliert an die Menschen, niemals die Hoffnung zu verlieren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag das Urteil im Prozess des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş gegen die Republik Türkei verkündet und die Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) angeordnet. Nach der Urteilsverkündung hat Demirtaş eine Stellungnahme über Twitter abgegeben.

„Bei der Verhandlung vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben die AKP-Regierung und meine rechtlichen Vertreter den Richterinnen und Richtern aus 17 verschiedenen Ländern vor 15 Monaten alle Anklagen, Beweise und Verteidigungen vorgelegt. Während die AKP-Regierung von einem Jurist aus Deutschland vertreten worden ist, wurde ich von einer Abordnung aus der Türkei verteidigt“, heißt es in der Erklärung.

Das Urteil sei nun endlich verkündet worden, schreibt Demirtaş weiter: „Damit ist bestätigt worden, dass das angeblich juristische Vorgehen gegen mich und meine Freundinnen und Freunde in den letzten sechs Jahren politische Ziele verfolgt und keine Rechtsgrundlage hat. Es hat sich bestätigt, dass wir unschuldig sind und diejenigen, die uns hinter Gitter gebracht haben, schwere Straftaten begangen haben, indem sie einen politischen Komplott gegen uns geschmiedet haben.

Das Urteil belegt, dass das Rechtssystem in der Türkei von der Regierung persönlich zerstört worden ist. Und obwohl ich seit vier Jahren rechtswidrig als politische Geisel festgehalten werden, macht mich dieses Urteil nicht glücklich. Im Gegenteil, es macht mich traurig. Denn nicht nur ich zahle die Rechnung für die Abschaffung der Demokratie und die Auflösung des Rechtssystems. Es sind 83 Millionen Bürgerinnen und Bürger davon betroffen. (Die eine Million Menschen, die genüsslich und prunkvoll weiterlebt, zähle ich absichtlich nicht mit.)

Ich bin traurig wegen der Menschen, die sich aufgrund von Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut das Leben nehmen. Ich bin traurig, weil sich Hunderttausende meiner Geschwister vom Müll oder dem Abfall auf dem Markt ernähren müssen. Es macht mich traurig, dass Millionen Landwirte und Gewerbetreibende Bankrott gemacht haben. Ich bin sehr traurig angesichts der Menschen, denen das Ausbleiben von Demokratie und Frieden die Luft zum Atmen nimmt und die ihr Land verlassen müssen.

Es macht mich traurig, dass sich Menschen aufgrund von Armut verbrennen, während diejenigen, die uns für den Erhalt ihrer Machtposition im Gefängnis festhalten, die das Recht mit Füßen treten und die Wirtschaft ruinieren, sich davon in ihrem Vergnügen nicht stören lassen. Ich wünschte, diesen Preis hätten nur ich und meine Freundinnen und Freunde zahlen müssen. Ich wünschte, die Rechnung wäre nicht allen so präsentiert worden, dass sie die Zukunft verdunkelt. Mehr als mich selbst bedauere ich mein Volk, euch alle.

Aber so traurig ich auch bin, so groß ist auch meine Hoffnung. Ich vertraue auf das Volk. Ich vertraue auf die Kraft der Millionen Menschen, die sich für die Demokratie die Hand reichen und täglich mehr werden. Ich glaube an die Menschen, die sagen: Wenn diese Republik uns allen gehört, dann werden wir das Land gemeinsam in ein Paradies verwandeln, ob türkisch oder kurdisch, alevitisch oder sunnitisch. Ich vertraue den Menschen mit guten Herzen, die ihre Ohren vor der unfassbar schrecklichen Hasssprache der Regierung und ihrer Partner verschließen und die Sprache des Friedens, der Liebe und der Geschwisterlichkeit sprechen. Ich bin hoffnungsvoll. Denn ich weiß, dass denen, die das Volk für dumm verkaufen, eine große Lektion erteilt werden wird. Sie alle werden auf den verstaubten Regalen der Geschichte landen.

Es wird nicht mehr lange dauern. Seid traurig, seid wütend, aber arbeitet, strengt euch an, kämpft und verliert niemals die Hoffnung. Vergesst nicht, wir werden auf jeden Fall gewinnen.“