Fall Demirtaş: EGMR fordert von Türkei Stellungnahme

Der europäische Menschenrechtsgerichtshof verlangt eine Stellungnahme der Türkei zum Fall des inhaftierten kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş. Konkret geht es um den zweiten Haftbefehl im sogenannten Kobanê-Verfahren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt von der Türkei eine Stellungnahme zum Fall des inhaftierten Politikers Selahattin Demirtaş. Das Schreiben an die Regierung in Ankara ist am Montag übermittelt worden, teilte Rechtsanwalt Ramazan Demir mit. Die der türkischen Regierung gesetzte Frist, um ihre Darlegungen zum zweiten Haftbefehl im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten vom Oktober 2014 einzureichen, sei auf zwölf Wochen festgelegt worden.

Demirtaş hatte im Januar beim EGMR eine Individualbeschwerde gegen seine Inhaftierung eingelegt und beruft sich dabei vor allem auf Artikel 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung) und 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) der Menschenrechtskonvention. Der EGMR will wissen, ob die gegen den früheren Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vorliegenden Fakten einen begründeten Verdacht für den erneuten Haftbefehl zuließen oder die Verhaftung lediglich aufgrund von Spekulationen erfolgte. Zudem verlangt der EGMR Auskunft über die von der türkischen Justiz verschleppte Verfassungsbeschwerde des 47-Jährigen vom November 2019. Die Stellungnahme der türkischen Regierung ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Entscheidung des Straßburger Gerichtes.

Seit über vier Jahren in politischer Geiselhaft

Der kurdische Politiker und Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş wurde im November 2016 verhaftet und sitzt seitdem im Hochsicherheitsgefängnis Edirne im Westen der Türkei. Im Hauptverfahren drohen ihm wegen Terrorvorwürfen bis zu 142 Jahre Gefängnis. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Am 20. November 2018 hatte der EGMR die Dauer seiner Untersuchungshaft für unzulässig erklärt und geurteilt, dass Demirtaş aus politischen Gründen verhaftet wurde und freigelassen werden muss. Der türkische Staat solle alles tun, um möglichst bald die Freilassung des Politikers zu ermöglichen. Die Entscheidung wurde von der Regierung in Ankara ignoriert.

Erster Haftbefehl überraschend aufgehoben

Anfang September 2019 wurde der Haftbefehl im Hauptverfahren gegen Demirtaş überraschend aufgehoben. Daraufhin hatte sein Rechtsbeistand bei einem Istanbuler Gericht, das den Politiker kurz zuvor in einem anderen Verfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hatte, einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gestellt. Um das zu verhindern, rollte die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara das Verfahren um die Kobanê-Proteste vor über sechs Jahren wegen „neuen Ermittlungserkenntnissen“ wieder auf und erwirkte einen zweiten Haftbefehl. Im „Kobanê-Verfahren” wird Demirtaş unter anderem 37-facher Mord vorgeworfen. Ihm und auch Figen Yüksekdağ sowie weiteren 106 mitangeklagten Politikerinnen und Politikern drohen bei einer Verurteilung erschwerte lebenslange Haftstrafen.

Ankara ignoriert auch Entscheidung der Großen Kammer

Am 22. Dezember 2020 hat der europäische Menschengerichtshof erneut entschieden, dass die Inhaftierung von Demirtaş politisch motiviert war und er sofort freigelassen werden muss. Zudem wurde Ankara zur Zahlung von insgesamt 60.400 Euro für Vermögensschäden, immaterielle Schäden sowie Ausgleich für Kosten und Ausgaben verurteilt. Das Urteil wurde von der Großen Kammer des EGMR gesprochen und ist rechtskräftig. Doch auch diese Entscheidung wird von der türkischen Regierung ignoriert.