Ein Gericht in der türkischen Hauptstadt Ankara hat die Anklageschrift im „Kobanê-Verfahren“ angenommen. 108 Politikerinnen und Politiker werden terroristischer Straftaten beschuldigt, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die wie 25 weitere Betroffene in Haft sind. Sechs Beschuldigte aus dem Verfahren sind unter Führungsaufsicht, nach 75 weiteren wird gefahndet.
In der von Oberstaatsanwalt Ahmet Altun verfassten Anklageschrift, die ANF vorliegt, wird die Verurteilung aller 108 Beschuldigten wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ zu lebenslanger Haft gefordert, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und Dutzende Mordversuche im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten vor sechs Jahren vorgeworfen. Neben mehr als 2.500 Einzelpersonen treten auch etliche Ministerien, Behörden, und Parteien als Nebenkläger auf, darunter die Ministerien für Inneres, Justiz und Verteidigung, das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, die Zentralbehörde der türkischen Polizei, der türkische Geheimdienst (MIT), die Koalitionsparteien AKP und MHP, die CHP und die Hizbullah-nahe Partei Hüda Par. Angeklagt sind auch mehrere Mitglieder des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Südkurdistan, darunter Murat Karayılan, Duran Kalkan und Cemil Bayık.
Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem Berichte über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen, die bei ANF veröffentlicht worden sind. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.
Erdoğan informiert vorab über Demirtaş-Anklage
Staatspräsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan hatte nach einer Kabinettssitzung am 28. Dezember die Anklagepunkte gegen Demirtaş aufgezählt: Als „Hauptverantwortlicher der Vorfälle vom 6. bis 8. Oktober 2014“ wird der 47-jährige Politiker für 37 Morde, 29 Mordversuche, 3777 Fälle von Sachbeschädigung, 395 Diebstähle, 15 Plünderungen, 308-maliges unbefugtes Betreten von Geschäfts- und Wohnräumen, 13 Mal das Verbrennen der türkischen Fahne sowie Körperverletzung von 326 Sicherheitskräften und 435 Bürgern verantwortlich gemacht. Selahattin Demirtaş war im November 2016 unter Terrorvorwürfen verhaftet worden. Gegen ihn laufen allerdings zahlreiche Prozesse. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hatte Ende Dezember die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers angeordnet. Die Türkei setzte das Urteil aber nicht um, obwohl sie als Mitglied des Europarats eigentlich daran gebunden ist. Bereits 2018 hatte das Straßburger Gericht geurteilt, der Politiker müsse freigelassen werden.
Hintergrund der Kobanê-Proteste
Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.
Prozesstermin im April
Der Prozesstermin im Kobanê-Verfahren ist nach Angaben des Demirtaş-Anwalts Ramazan Demir für den 25. April angesetzt worden, einem Sonntag. Verhandelt wird demnach im Gerichtsgebäude auf dem Gefängniscampus Sincan. Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um: Figen Yüksekdağ, Sebahat Tuncel, Selahattin Demirtaş, Selma Irmak, Sırrı Süreyya Önder, Gülfer Akkaya, Gülser Yıldırım, Gültan Kışanak, Ahmet Türk, Ali Ürküt, Alp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Aysel Tuğluk, İbrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine Ayna, Emine Beyza Üstün, Mehmet Hatip Dicle, Ertuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu, Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir Çelik, Duran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Hüseyin, Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel İmecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran, İsmail Özden, İsmail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ, Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mızgın Arı, Murat Karayılan, Mustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar, Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir, Remzi Kartal, Rıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih Akdoğan, Salih Müslüm Muhammed, Salman Kurtulan, Sara Aktaş, Sibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.