„Kobanê-Verfahren“: Anklage gegen 108 Beschuldigte eingereicht

108 Politikerinnen und Politiker der HDP werden wegen den Kobanê-Protesten vor sechs Jahren terroristischer Straftaten beschuldigt. Darunter ist auch Selahattin Demirtaş, der trotz gegenteiligem EGMR-Urteil weiter in Haft ist.

Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara hat die Anklageschrift im „Kobanê-Verfahren“ bei der zuständigen 22. Strafkammer eingereicht. 108 Politikerinnen und Politiker werden terroristischer Straftaten beschuldigt, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die wie 25 weitere Betroffene in Haft sind. Sechs Beschuldigte aus dem Verfahren sind unter Führungsaufsicht, nach 75 weiteren wird gefahndet. Der europäische Menschenrechtsgerichtshof hat am 22. Dezember die sofortige Freilassung von Selahattin Demirtaş angeordnet.

In der Anklageschrift wird die Verurteilung aller 108 Beschuldigten wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ gefordert, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und Dutzende Mordversuche im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten vor sechs Jahren vorgeworfen. Nach Angaben der Verteidigung steht die Akte weiter unter Geheimhaltung und wird freigegeben, wenn das Gericht die Anklageschrift annimmt.

Erdoğan informiert vorab über Demirtaş-Anklage

Staatspräsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan hat nach einer Kabinettssitzung am 28. Dezember die Anklagepunkte gegen Demirtaş aufgezählt: Als „Hauptverantwortlicher der Vorfälle vom 6.-8. Oktober 2014“ wird der HDP-Politiker für 37 Morde, 29 Mordversuche, 3777 Fälle von Sachbeschädigung, 395 Diebstähle, 15 Plünderungen, 308-maliges unbefugtes Betreten von Geschäfts- und Wohnräumen, 13 Mal das Verbrennen der türkischen Fahne sowie Körperverletzung von 326 Sicherheitskräften und 435 Bürgern verantwortlich gemacht.

Die bisherigen Entwicklungen in den „Kobanê-Ermittlungen“

Aktuell befinden sich 27 Politikerinnen und Politiker aufgrund des in Ankara geführten Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten in der Türkei im Gefängnis.

Am 20. September 2019 erging Haftbefehl gegen die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, die ohnehin seit November 2016 im Gefängnis sind.

Am 2. Oktober 2020 wurden die HDP-Politikerinnen Alp Altınörs, Nazmi Gür, Emine Beyza Üstün, Emine Ayna, Ayla Akat Ata, Bircan Yorulmaz, Berfin Özgü Köse, Dilek Yağlı, Can Memiş, Günay Kubilay, Bülent Parmaksız, Pervin Oduncu, İsmail Şengün, Cihan Erdal, Zeki Çelik, Ali Ürküt und Ayhan Bilgen verhaftet.

Am 12. Oktober 2020 erging ein weiterer Haftbefehl gegen die HDP-Bürgermeisterin Gültan Kışanak, die ebenfalls seit vier Jahren im Gefängnis ist.

Die ehemalige HDP-Abgeordnete Gülser Yildirim wurde in den Hausarrest geschickt, dem abgesetzten HDP-Bürgermeister Ahmet Türk wurden Reisen ins Ausland verboten.

Am 3. November 2020 sind der ehemalige BDP-Abgeordnete Ibrahim Binici und die HDP-Parteiratsmitglieder Mesut Bağcık und Ayşe Yağcı verhaftet worden.

Hintergrund der Kobanê-Proteste

Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.