Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara hat einen Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, beantragt. Zur Begründung teilte die Behörde mit, dass das Verfahren gegen die beiden inhaftierten Politiker*innen wegen des Vorwurfs der „Anstachelung zur Gewalt” im Rahmen der Kobanê-Proteste im Oktober 2014 im Zuge von neuen Ermittlungserkenntnissen wieder aufgerollt wurde. Aus dem HDP-Lager hieß es dazu: „Wer so eine Justiz hat, braucht keine Feinde mehr.“
Der Haftbefehl gegen den Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş wurde am 2. September in seinem Hauptverfahren in Ankara überraschend aufgehoben. In dem Prozess drohen dem kurdischen Politiker 142 Jahre Freiheitsstrafe wegen Terrorvorwürfen. Er ist unter anderem angeklagt, eine Organisation gegründet und geleitet zu haben. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren.
Ein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung bei einem Istanbuler Gericht, das Demirtaş zuvor zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hatte, ist anhängig. Sollte dem Antrag stattgegeben werden, müsste der ehemalige HDP-Vorsitzende sofort freigelassen und unter Führungsaufsicht gestellt werden. Um das zu verhindern, soll nun ein Haftbefehl erwirkt werden.
Seit knapp drei Jahren in Haft
Die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren Abgeordneten ihrer Partei festgenommen und anschließend inhaftiert. Seitdem sitzen sie in Edirne bzw. Kandira im Gefängnis. Am 20. November 2018 hatte der EGMR die Dauer der Untersuchungshaft von Demirtaş für unzulässig erklärt und geurteilt, dass der 46-Jährige aus politischen Gründen verhaftet wurde und freigelassen werden muss. Die Anwälte von Demirtaş waren gegen Teile des Urteils in Berufung gegangen und forderten ein Urteil, mit dem die Türkei zur Umsetzung gezwungen wird. Vergangenen Mittwoch wurde der Fall in Straßburg erneut verhandelt. Wann die Urteilsverkündung erfolgt, steht noch nicht fest.
Kobanê-Proteste im Oktober 2014
Am Abend des 6. Oktober 2014, nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung, war es der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gelungen, ins Stadtzentrum der nordsyrischen Stadt Kobanê einzudringen. Angesichts der kritischen Situation in Kobanê hatte die HDP die Bevölkerung Nordkurdistans und der Türkei zu einem unbefristeten Protest gegen die AKP-Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen türkischen Sicherheitskräften und den Protestierenden: Soldaten, Polizisten, Dorfschützer sowie Mitglieder und Anhänger der radikalislamistischen türkischen Hisbollah (Hizbullah) führten einen gemeinsamen Kampf gegen Kurd*innen, die sich an den Protesten beteiligten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmer*innen des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 und 53. Politiker aus dem Lager der AKP greifen immer wieder auf die Behauptung zurück, Demirtaş und Yüksekdağ seien für den Tod dieser Menschen verantwortlich.
Figen Yüksekdağ drohen 83 Jahre Haft
Im Hauptverfahren gegen Figen Yüksekdağ drohen der türkischen Politikerin bis zu 83 Jahre Gefängnis. Die 48-Jährige wird unter anderem beschuldigt, eine Terrororganisation gegründet und geleitet zu haben. Außerdem soll sie nach Auffassung der Staatsanwaltschaft „Propaganda“ für die PKK und „Separatismus“ betrieben haben. Die 92 Seiten lange Anklage stützt sich bei ihren Vorwürfen lediglich auf Reden und Aussagen in Interviews, die Figen Yüksekdağ als parlamentarische Abgeordnete tätigte. Dabei geht es unter anderem um eine Ansprache, die sie nach dem Anschlag von Pirsûs (Suruç) gehalten hat. Nachdem Anfang 2015 Kobanê vom IS befreit wurde, rief die Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF) zu einer Kampagne zum Wiederaufbau der durch die IS-Terroristen zerstörten Stadt auf. Aus mehreren Städten der Türkei und Nordkurdistans kamen daraufhin am 20. Juli etwa 300 Jugendliche in der Grenzstadt Pirsûs im Kulturzentrum Amara zusammen, um anschließend gemeinsam nach Kobanê einzureisen. Um die Mittagszeit verursachte ein Selbstmordattentäter des IS in direkter Umgebung der SGDF-Versammlung eine Explosion, bei der 33 hauptsächlich junge Menschen ihr Leben verloren. Mindestens 76 weitere Menschen wurden bei dem Anschlag teils schwer verletzt.
Yüksekdağ hatte in ihrer Rede in Anspielung auf die IS-Unterstützung Ankaras gesagt: „Ihr könnt im Mittleren Osten nicht zu einer Regionalmacht werden, wenn ihr euch an Islamisten lehnt, die Menschen köpfen. Kehrt um vom falschen Weg. Wir wenden uns denjenigen zu, die sich dieser Gräueltaten widersetzen. Das sind die YPG und es ist die PYD“.