Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die sofortige Freilassung des seit über vier Jahren in der Türkei inhaftierten HDP-Politikers Selahattin Demirtaş angeordnet. Der Gerichtshof hat heute entschieden, dass die Türkei als der beklagte Staat „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um die sofortige Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten“. Ankara muss dem 47-Jährigen zudem insgesamt 60.400 Euro für Vermögensschäden, immaterielle Schäden sowie Ausgleich für Kosten und Ausgaben zahlen.
Der EGMR hat mehrere Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention festgestellt. Im Fall des ehemaligen HDP-Vorsitzenden sind die Meinungsfreiheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie das Recht auf freie Wahlen verletzt worden.
Der Gerichtshof stellte insbesondere fest, „dass die Eingriffe in die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung - nämlich die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Herrn Demirtaş infolge der Verfassungsänderung vom 20. Mai 2016, seine anfängliche und fortgesetzte Untersuchungshaft und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wegen terrorismusbezogener Straftaten auf der Grundlage von Beweisen, die seine politischen Reden umfassten - nicht gesetzlich im Sinne von Artikel 10 der Konvention vorgeschrieben waren“. Von den türkischen Gerichten seien „zu keinem Zeitpunkt während der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers konkrete Tatsachen oder Informationen vorgebracht worden, die einen Verdacht hätten begründen können, der die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers gerechtfertigt hätte“.
Weiter stellte der EGMR fest, „dass die Justizbehörden ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtung aus Artikel 3 des Protokolls Nr. 1 nicht nachgekommen waren, um zu prüfen, ob Herr Demirtaş für die angegriffenen Äußerungen Anspruch auf parlamentarische Immunität hatte oder nicht. Sie hatten auch nicht die konkurrierenden Interessen abgewogen oder die Tatsache berücksichtigt, dass Herr Demirtaş einer der Führer der politischen Opposition in seinem Land war. Schließlich sah es der Gerichtshof als erwiesen an, dass die Inhaftierung des Beschwerdeführers, insbesondere während zweier entscheidender Kampagnen im Zusammenhang mit dem Referendum vom 16. April 2017 und der Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018, den Hintergedanken verfolgte, den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken“.
Das Urteil der Großen Kammer ist rechtskräftig und wird dem Ministerkomitee des Europarats zur Überwachung der Vollstreckung übermittelt.
Seit vier Jahren als politische Geisel im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über vier Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren kurdischen und linken Politiker*innen festgenommen und anschließend inhaftiert. Vor einem Jahr wurden die Haftbefehle gegen Demirtaş und die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ überraschend aufgehoben. Auf Betreiben des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde jedoch ein erneuter Haftbefehl erwirkt. Erdoğan erklärte dazu: „Wir können sie nicht freilassen. Die haben das Parlament infiltriert. Unsere Nation vergisst diejenigen nicht, die die Menschen auf die Straßen gerufen und unsere Söhne ermordet haben. Wir werden sie bis zum Letzten verfolgen und niemals ablassen.“
Im Juni hatte das türkische Verfassungsgericht einer Klage von Demirtaş wegen der Verletzung seiner persönlichen Freiheit durch die Untersuchungshaft stattgegeben. Das Gericht gab Demirtaş Recht und urteilte, dass die Untersuchungshaftdauer den „angemessenen Zeitraum“ überschritten habe und damit Artikel 19 der türkischen Verfassung verletze. Das Justizministerium müsse ihm zudem 50.000 TL Entschädigung zahlen. Eine Entlassung aus dem Gefängnis blieb trotz des juristischen Erfolgs aus, da bereits eine neue Haftentscheidung gegen den kurdischen Politiker vorlag.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte bereits im November 2018 entschieden, dass die Untersuchungshaft von Demirtaş unrechtmäßig ist. Auch dieses Urteil wurde durch eine Ad-hoc-Verurteilung in einem der zahllosen Strafverfahren gegen den kurdischen Politiker unterlaufen.