„Nie zu spät für Gerechtigkeit“
Die Samstagsmütter haben sich zum 1052. Mal auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz versammelt, um Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen und eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen zu fordern. Im Fokus der dieswöchigen Aktion standen die Brüder Mehmet Selim und Hasan Örhan sowie deren Neffe Cezayir Örhan, die heute vor 31 Jahren in der kurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır) festgenommen und danach ermordet wurden.
„Schweigen heißt mitschuldig sein“
Bevor die Aktivistin Besna Tosun den Fall vorstellte, betonte sie die Bedeutung des Rechts auf Wahrheit und Gerechtigkeit: „Schweigen bedeutet Mittäterschaft. Der Kampf um Wahrheit, Gerechtigkeit und ein Leben in Frieden ist unsere Pflicht – gegenüber den Verschwundenen ebenso wie gegenüber der Zukunft unserer Gesellschaft.“
Festnahme und Verschwinden im Mai 1994
Im April 1994 hatten Einheiten Kommandobrigade Bolu, die berüchtigt war für ihren „Einsatz“ im schmutzigen Krieg des türkischen Staates in Kurdistan, ein Lager im Dorf Zerra (Çağlayan) im Landkreis Pasûr (Kulp) eingerichtet. Am 24. Mai 1994 nahmen Soldaten dort Mehmet Selim (46), Hasan (40) und Cezayir Örhan (17) mit. Auf Nachfrage versicherten die Militärs den Familien, die Männer würden sie nur als Ortskundige begleiten und bald nach Hause zurückkehren.

Tatsächlich kamen sie nie zurück. Die Familie wandte sich an diverse Behörden – von der örtlichen Gendarmerie über die Staatsanwaltschaft bis zum Innenministerium. Augenzeug:innen berichteten, dass die Männer später in verschiedene Polizeieinrichtungen, darunter auch ein Internat, das teilweise als Folterzentrum genutzt wurde, gebracht worden seien.
Die Ermittlungen wurden jedoch eingestellt – es gebe „keine Spuren in den Festnahmeregistern“, so die damalige Begründung. Später wurde das Verfahren wegen Verjährung endgültig geschlossen.
EGMR sah staatliche Verantwortung
Die Familien der Vermissten zogen daraufhin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In einem Urteil vom 6. November 2002 stellte das Straßburger Gericht fest, dass die türkischen Behörden für das Verschwinden der Örhans verantwortlich seien. Im Jahr 2003 wurden die sterblichen Überreste von Mehmet Selim und Hasan Örhan in einem Massengrab nahe Pasûr entdeckt. Cezayirs Verbleib bleibt bis heute ungeklärt.
„Wir geben nicht auf“
Die Samstagsmütter fordern eine Wiederaufnahme der Ermittlungen – unabhängig von Fristen oder juristischen Hürden: „Es ist nie zu spät für Gerechtigkeit. Die Justiz muss die Entscheidung des EGMR berücksichtigen und den Fall wieder aufnehmen“, sagte Besna Tosun. „Wir werden nicht aufhören, die Einhaltung rechtsstaatlicher Normen einzufordern.“
Ein Brief für die Wahrheit
Gamze Elvan, Schwester des durch Polizeigewalt getöteten Jugendlichen Berkin Elvan, verlas einen Brief von Adnan Örhan, Sohn von Mehmet Selim Örhan. Darin schildert er die jahrelangen Bemühungen der Familie, die Wahrheit ans Licht zu bringen – darunter auch das Verschwinden identifizierter Knochen, die später ohne Zustimmung der Angehörigen anonym beerdigt wurden: „Wir fordern eine Gesellschaft ohne Diskriminierung, in der Gleichheit, Sprache, Religion und Identität verfassungsrechtlich geschützt sind. Und wir fordern: Die dunkle Vergangenheit dieses Landes darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Wahre Aufarbeitung ist nur durch Aufrichtigkeit möglich.“