DEM-Initiative von Regierungsparteien abgelehnt
Ein Antrag der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) zur Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens und extralegalen Tötungen in Haft ist im türkischen Parlament abgelehnt worden. Die Fraktionen der AKP, MHP und Iyi-Partei stimmten am Dienstag gegen die Einsetzung einer Untersuchungskommission.
Erinnerung an Opfer und Appell für gemeinsame Aufarbeitung
Der DEM-Abgeordnete Sırrı Sakık erinnerte in seiner Rede an kurdische Opfer staatlicher Gewalt, darunter den zwölfjährigen Uğur Kaymaz, der 2004 in Qoser (tr. Kızıltepe) mit 13 Schüssen von der Polizei getötet wurde, sowie den Politiker Vedat Aydın, der 1991 nach seiner Festnahme in Amed (Diyarbakır) ermordet wurde. Mit Fotos der Opfer trat Sakık ans Rednerpult und forderte einen Perspektivwechsel im Umgang mit historischen Traumata.
„Diese Menschen sind Teil unserer gemeinsamen Geschichte – ihr Andenken ist ein Mahnmal der Würde. Wir wollen kein Konkurrenzdenken beim Schmerz, sondern eine gemeinsame Erinnerungskultur.“ Sakık betonte, dass eine politische Lösung der Konflikte im Land nur durch Dialog möglich sei: „Die Zeit der bewaffneten Auseinandersetzungen sollte vorbei sein. Die Zukunft liegt in einer gemeinsamen, demokratischen Politik.“
Forderung nach Übergangsjustiz
Auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu unterstützte die Initiative und verwies auf die Rolle staatlicher Akteure wie den Militärgeheimdienst JITEM bei zahlreichen Fällen des Verschwindenlassens. Er sprach sich für die Einführung eines „Übergangsjustiz-Modells“ aus, das eine gesellschaftliche Versöhnung ermöglichen könnte: „Wenn der gegenwärtige Prozess wirklich in Richtung Frieden führen soll, brauchen wir eine Phase der Aufarbeitung. Die Einrichtung einer Untersuchungskommission wäre ein erster Schritt – geben wir den Bürger:innen dieses Landes ein Zeichen des Vertrauens.“
Kritik an Sicherheitsdiskurs
Birol Aydın von der Partei Neuer Weg (YY) kritisierte in seiner Rede die politische Instrumentalisierung von Feindbildern und Sicherheitsnarrativen. Anstatt pauschaler Verweise auf „äußere Feinde“, brauche es ein echtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Bevölkerung, sagte er.
Ablehnung durch Regierungsparteien
Sprecher der İyi-Partei, AKP und MHP sprachen sich in ihren Wortmeldungen gegen den Antrag aus. In der anschließenden Abstimmung wurde die Forderung nach der Einsetzung einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der Fälle von Verschwindenlassen und extralegalen Tötungen mehrheitlich abgelehnt.
Der lange Schatten der staatlichen Gewalt
Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurd:innen, als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt.
Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte – während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.
Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. Menschenrechtsorganisationen wie die „Samstagsmütter“ kämpfen seit Jahrzehnten um Aufklärung.